7 - Ein Fund

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Melanie ist froh, dass Tom sich bereit erklärte, persönlich vorbeizukommen und sich mit Silvio zu unterhalten. Nicht dass sie ihrem Chef misstraut, aber seine Reaktion, als sie ihn nach Louisa fragte, erschien ihr seltsam. Nun, vielleicht war er einfach abgelenkt. Kein Wunder, bei all der administrativen Arbeit, die sich während seiner Abwesenheit anhäufte.

Doris war ihr zwar eine ausgezeichnete Unterstützung, aber erstens ist sie nur drei Tage die Woche da und zweitens befindet sie sich noch in Ausbildung. Das bedeutet, dass Melanie ihr alle neuen Abläufe zuerst erklären muss und damit oft mehr Zeit verliert, als dass sie durch die Arbeit der Praktikantin gewinnen kann.
Jetzt, wo der Sommer und damit die Ferienzeit vor der Tür stehen, hatte Melanie alle Hände voll zu tun, die Kundschaft im Laden zu bedienen, die Reiseleiter und -leiterinnen zu betreuen und täglich die wichtigsten E-Mails zu beantworten. Dabei überließ sie soviel wie möglich Doris und schob alles, was nicht höchste Dringlichkeit besaß, auf die lange Bank. Gut möglich, dass Silvio nur schockiert war über die aufgestapelte Post auf seinem Schreibtisch.
Nun, geschieht ihm recht, weshalb verschwindet er tagelang, ohne seine Mitarbeiterinnen zu informieren!

Wenn sie diesen Job nicht unbedingt brauchen würde, könnte Melanie nach dem aufreibenden Marathon der letzten Tage darauf verzichten, sich mit einem grummelnden Chef zu befassen. Sie hofft deshalb, dass Thomas den Miesepeter wieder auf den Boden der Realität zurückholt. Leider kann Louisas Bruder erst nach fünf Uhr nachmittags vorbeikommen. Bis dahin wird sie wohl oder übel mit Silvios schlechter Laune zurechtkommen müssen.

Melanie begrüßt den Dreiklang des Türöffners, der neue Kundschaft ankündigt. So lange sie mit dem älteren Herrn beschäftigt ist, der gerade den Laden betritt, wird der Boss sie in Ruhe lassen.

~ ~ ~

Am Stand der Sonne über der Bucht erkennt sie, dass der Nachmittag bereits weit fortgeschritten ist. Die Zeit wird ihr lang, denn Jalai ist seit gestern verschwunden. Er folgte kurz nach Sonnenuntergang einem aufgeregten, gestikulierenden jüngeren Mann hinüber zum Dorf und wies sie unmissverständlich an, ihm nicht zu folgen.
Sie hat nicht die Absicht, den Wünschen des alten Mannes zuwider zu handeln. Immerhin war er es, der sie rettete und wieder zusammenflickte. Aber inzwischen hat sie den übergebliebenen Fisch vom gestrigen Abendmahl gegessen und ist beunruhigt.
Ob sie Jalai suchen soll? Nein, er untersagte ihr ausdrücklich, ihm zu folgen, mit Gesten und Worten. Ihre Verständigung ist inzwischen so weit fortgeschritten, dass sie nicht mehr vorgeben kann, ihn nicht verstanden zu haben. Also wird sie wohl oder übel noch länger ausharren müssen.

Gerade als sie sich entschließt, hinunter zum Strand zu gehen, setzt ein kräftiger Regenguss ein. Solche plötzlichen Regenfälle sind hier keine Seltenheit, und sie hat sich längst daran gewöhnt, dass manche Tage ein Gewitter das andere jagt. Trotzdem kann sie gerne darauf verzichten, klatschnass zu werden. Sie setzt sich deshalb auf einen der alten Palmstämme bei der Feuerstelle, um den Sturzbächen zuzusehen, die vom Hüttendach fließen.

Plötzlich erkennt sie eine Gestalt, die durch den Regen zur Hütte rennt. Zunächst keimt Hoffnung, dass Jalai endlich zurückkommt. Aber bald erkennt sie, dass die Person zu klein ist. Kurz darauf schlüpft der klitschnasse Junge vom Strand unter das Blätterdach und schüttelt sich wie ein junger Hund. Wie hieß der Junge doch gleich? Ah, ja, Naliq. Er kommt mit einem breiten Grinsen auf sie zu und streckt eine Hand aus.

„Naom, kial-ej! She tjavo ej."

Fieberhaft klaubt sie die wenigen Wörter zusammen, die sie gelernt hat. Naom ist einfach, das heißt Feuer. Ej bedeutet so viel wie du oder dir. Und tjavo hat sie auch schon gehört. Was war das doch gleich? Während sie überlegt, was das Wort bedeutet, deutet der junge Besucher aufgeregt auf sie, sich selbst und hinunter zum Strand. Da fällt ihr wieder ein, wozu Jalai dieses Wort verwendet. Es bedeutet soviel wie zeigen. Vorsichtshalber versucht sie es mit einem Satz.
„Naliq tjavo ..."

Schlüssel zu den Welten | Wattys 2018 GewinnerWo Geschichten leben. Entdecke jetzt