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Es gibt bestimmt angenehmere Ding, als in einem fremden Land aufzuwachen, ohne sich an etwas zu erinnern, sei es der Grund der Reise an diesen exotischen Ort oder auch nur so einfache Dinge wie den eigenen Namen.

Mit einem tiefen Seufzern versucht sie, in der Hängematte eine bequemere Stellung zu finden. Nun ist sie mindestens schon drei Tage hier und kann sich immer noch an nichts Zusammenhängendes erinnern. Dabei sind einige der Bilder, die sie in ihren Träumen sieht, sehr real und stammen ganz bestimmt aus ihrer Vergangenheit.

Da gibt es belebte Straßen in einer Stadt, vorbeieilende Fußgänger, Autos, grüne Landschaften mit sanften Hügeln und Bergen im Hintergrund. Aber meist kann sie sich an diese Eindrücke kaum erinnern, wenn sie erwacht. Sie werden überlagert von einem immer gleichen Albtraum.
Im Gegensatz zu den normalen Träumen krallen sich die Bilder des Albtraums in ihrem Hirn fest und verblassen auch tagsüber nie vollständig.

Der Traum verläuft immer gleich. Es ist, als ob sie mit hoher Geschwindigkeit durch einen Tunnel fahren würde, auf ein helles Licht in einiger Entfernung zu. Allerdings beginnt der Tunnel sich plötzlich um die Mittelachse zu drehen und anstatt näher zu kommen, entfernt sich das Licht an seinem Ende. Die Tunnelwände drehen sich immer schneller, wirbeln in atemberaubendem Tempo, glühen in einem gespenstisch orangen Licht und strahlen Hitze aus.
Danach fühlt es sich an, als würde sie durch einen Strudel oder endlosen Schlund aus Magma senkrecht hinunter ins Erdinnere stürzen. Dann, wenn sie denkt, dass sie sich gleich übergeben muss, ziehen sich die Wände des Tunnels immer enger zusammen, bis sie von ihnen auf allen Seiten umschlossen wird und verzweifelt darum ringt, um Hilfe zu schreien. Aber ihre trockene, brennende Kehle bringt keinen Ton hervor und sie weiß, dass sie nun gleich ersticken muss.
Daraufhin erwacht sie schweißgebadet und um Atem ringend.

Inzwischen fürchtet sie sich beinahe davor, einzuschlafen, denn sie weiß dass der Traum sie früher oder später wieder einfangen wird. Deshalb ist sie froh, als der alte, kahlköpfige Mann zu ihr tritt, um nach ihren Verletzungen zu sehen. Er reicht ihr eine Schale Wasser, die zumindest die eingebildeten Schmerzen in ihrer Kehle lindert. Schlucken ist immer noch unangenehm, aber wenigsten scheinen ihre Rippen nicht mehr bei jedem Atemzug in ihre Lunge zu stechen.

Nachdem sie ausgetrunken hat, nimmt der alte Mann die Schale wieder entgegen und lächelt ihr zu. Sie versucht die Geste zu erwidern, schließlich kann er nichts für ihre verzweifelte Situation und sie wagt sich nicht vorzustellen, was mit ihr geschehen wäre, wenn er sich nicht um sie gekümmert hätte.
Aber heute wendet er sich nicht gleich ab, um anderen Dingen nachzugehen. Er bedeutet ihr, sich aufzusetzen und stützt sie beim Versuch, seinem Wunsch nachzukommen. Ihre Rippen schmerzen und ihre Beine sind steif, besonders das linke Knie. Aber sonst scheint alles funktionsfähig, außer ihrem rechten Arm natürlich.

Dass der Arm gebrochen sein muss, hat sie sich inzwischen selbst ausgerechnet. Er ist ordentlich geschient und mit einem Verband aus einem Bastgeflecht umwickelt. Nichts, was sie da tun könnte, außer auf eine rasche Heilung zu hoffen.

Sie folgt ihrem Begleiter zu der Stelle unten am Strand, die er ihr vor zwei Tagen zeigte. Dort kann sie zwischen zwei gezackten Felsen in Ruhe ihr Geschäft verrichten. Er geht unterdessen ein Stück dem Meer entlang in Richtung des Dorfes, von dem sie nur die Blätterdächer einiger Häuser hinter einem Palmenhain erkennen kann. Irgendwann will sie sich das ansehen. Aber im Moment fühlt sie sich noch nicht in der Lage dazu, so weit zu gehen.

Sie knöpft sich ungeschickt mit der linken Hand ihre dunkelgraue Cargohose zu, als der Kahlköpfige zurückkommt und ihr mit einem breiten Lachen eine große Krabbe entgegenstreckt. Nun, das Tier ist wirklich beachtlich, sie möchte ihren Finger nicht in eine seiner Scheren bekommen. Allerdings nimmt sie an, dass es sich hier um ihre nächste Mahlzeit handelt, und das bringt sie dazu, einmal leer zu schlucken. Er hofft doch nicht, dass sie weiß, wie man so etwas zubereitet?

Schlüssel zu den Welten | Wattys 2018 GewinnerWo Geschichten leben. Entdecke jetzt