23 - Absichten

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Enttäuscht lässt Melanie das Handy zurück in ihre Tasche gleiten. Tom antwortet nicht auf ihre Anrufe. Vermutlich hat er längst dieses mysteriöse Portal betreten und wandert nun durch eine Paralleldimension auf der Suche nach seiner Schwester. Ob es ihm wohl gut geht? Sie kann verstehen, dass er sich um Louisa Sorgen macht. Aber sich deswegen selbst einer solch neuen und unerprobten Technologie anzuvertrauen, scheint ihr ziemlich gewagt, um es gelinde auszudrücken.
Nachdenklich beobachtet sie Kathi, die mit einigen gleichaltrigen Kindern auf der Rutsche Wettrennen veranstaltet. Selbstverständlich würde sie für ihre Tochter dasselbe tun. Vermutlich sogar noch wesentlich verrücktere Dinge. Aber im Gegensatz zu Kathi ist Lou erwachsen und unabhängig, und sie benutzte das Portal aus eigener Entscheidung. Tom dagegen, der ist zwar auch erwachsen, aber...

Überrascht muss sich Melanie eingestehen, dass ihr der Bruder ihrer Arbeitskollegin mehr am Herzen liegt, als sie Alfred gegenüber zuzugeben bereit war. Allerdings durchschaute der Rentner wohl ihre Zurückhaltung. Sein letzter, gutgemeinter Ratschlag klingt ihr immer noch in den Ohren.

„Wenn ihnen etwas an Tom liegt, sollten sie es ihm bald einmal sagen. Ich glaube, dass er eine Person ist, um die es sich zu kämpfen lohnt. Selbst wenn er offensichtlich auch zu den Menschen gehört, die das Glück nicht einmal dann erkennen, wenn es ihnen direkt vor der Nase steht."

Melanie seufzt. Ja, Tom wirkt auf sie tatsächlich wie jemand, mit dem sie glücklich werden könnte. Und Kathi vergöttert ihn geradezu. Seine natürliche Art, mit der Vierjährigen umzugehen, ist erfrischend. Wenn sie da an ihren letzten Verehrer denkt... Kathi hasste ihn mit all der Abneigung, zu der eine Vierjährige fähig ist. Wie ein hilfloses Baby behandelt oder achtlos übersehen zu werden, passte ihr gar nicht. Nein, ihre Tochter ist inzwischen der Meinung, sie sei schon groß und will auch entsprechend behandelt werden.

Obwohl Tom laut seiner eigenen Aussage keine Erfahrung mit Kindern hat, traf er der Kleinen gegenüber spontan den richtigen Ton. Natürlich ist das allein kein Grund, sich ihm an den Hals zu werfen. Aber da sind auch sein charmantes Lächeln, sein bestechender Humor und das begeisterte Glitzern in seinen Augen, wenn er von Dingen spricht, die ihn interessieren. Alles Dinge, die so überhaupt nicht zu dem Klischee passen, das sie bisher von Bankangestellten hatte.

Für einen kurzen Moment presst Melanie die Augen zu und atmet tief durch. Es hat sie offenbar heftiger erwischt, als sie zunächst wahrhaben wollte. Und genau diesen Moment muss das Objekt ihrer post-adoleszenten Verknalltheit wählen, um den Helden in einem Science-Fiction-Abenteuer zu spielen!

Der Klingelton ihres Handys lässt sie zusammenfahren. Eilig kramt sie das fiepende Stück Hightech aus der Tasche und lässt es beinahe fallen, als sie den Namen auf dem Display erkennt. Tom Walter. Er ist doch noch nicht in dem Portal! Melanies Stimme überschlägt sich beinahe, als sie den Anruf entgegennimmt.

„Hallo Tom, bin ich froh, dass du zurückrufst!"

„Melanie? Ist etwas passiert?"

„Nein, nein, ich habe nur gedacht... ich bin froh, dass ich dich erwische. Dein Freund Alfred hat heute vor dem Reisebüro auf mich gewartet. Er meint, du willst durch dieses Portal gehen?"

Am anderen Ende der Leitung bleibt es still. Ob sie zu weit gegangen ist? Melanie ist überzeugt, dass Tom ihren rasenden Herzschlag hören kann. Zumindest in ihren eigenen Ohren klopft er heftig genug. Sie hätte besser doch nicht anrufen sollen. Nun hat Tom bestimmt das Gefühl, sie mische sich in seine Angelegenheiten. Was sie, genaugenommen, ja auch tut.
Endlich unterbricht seine vertraute Stimme ihren Absturz in die Selbstzweifel. Sie glaubt, den Hauch eines Lächelns herauszuhören.

„Der gute Alfred! Ich hätte mir denken können, dass er sich Sorgen um mich macht. Aber dass er soweit geht, dich damit zu belästigen... Nun, keine Angst, ich werde das Portal nicht benutzen. Silvio ist jetzt unterwegs, um Lou zu suchen. Er sollte in einer halben Stunde zurück sein."

Schlüssel zu den Welten | Wattys 2018 GewinnerWo Geschichten leben. Entdecke jetzt