Kapitel 1

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Summend lief ich durch die Gassen des einztigen New Yorks. Früher, so erzählte man sich unter den Menschen, wimmelte es hier nur von Leuten. Heute ist es fast menschenleer. Geprägt ist diese Stadt von großer Verwüstung. Erzengel Gabriel hat sich hier niedergelassen. Er war derjenige, der über den Kontinent Nordamerika herrschte. Natürlich hatten die Menschen versucht ihn zu verjagen, doch sie scheiterten. 

Ich gehöre zu der Generation, die Niemanden mehr kennt, der vor all dem hier gelebt hatte. Doch wir hatten großes Glück gehabt, sagte mir meine Mutter immer wieder. Gabriel war der wohl älteste und weiseste Erzengel. Unter alt versteht man Ende zwanzig. Jedenfalls vom Aussehen her. Sein wahres Alter kannte niemand. Schon von Beginn seiner Herrschaft an konnten die Menschen auf dem Kontinent mit ihren Sorgen und Problemen zu ihm kommen. Immer versuchte er eine Lösung zu finden.

Dieses Glück hatten nicht alle Kontinente. Natürlich arbeiteten wir Menschen auch hier als Diener und Sklaven der Engel, doch im Gegensatz zu den meisten anderen Herrschaftsgebieten hatten wir auch gewisse Rechte. Es waren zwar Wenige, aber wir hatten welche.

Der einzige Kontinent, dem es ebenso erging wie uns, war Südamerika. Dort herrschte der Erzengel Michael. Er und Gabriel seien gute Freunde, sagte man mir. Deshalb hatten sie sich auf solche Dinge geeinigt.

Am schlechtesten ging es wohl den Menschen in Europa - dem Kontinent von Raphael. Er war der jüngste Erzengel. Meine Mutter wunderte sich schon immer, weshalb er überhaupt zu einem wurde. Doch irgendwie musste er es geschaft haben. Wir wussten hier nicht viel über das Leben dort in Europa, doch was man hört klingt grausam. Hunger und Armut sollen die Menschen dort leiden. Raphael behandle sie wie Tiere.

Erzengel Raziel herrschte über Asien. Er soll Raphael sehr ähnlich sein. Ich glaube, sie waren sogar Geschwister. Viel lernten wir nicht darüber, denn es ging uns nicht sonderlich viel an. Aus der Engelspolitik hatten die Menschen sich rauszuhalten.

Zu guter letzt gab es noch den Erzengel Uriel. Ihm gehörte Afrika, Grönland und alles, was mit Australien zutun hatte. Wie die Menschen dort lebten wusste ich nicht und um ehrlich zu sein interessierte es mich auch nicht sonderlich.

Das waren also die fünf großen Erzengel: Gabriel, Michael, Raphael, Raziel und Uriel. Legenden zufolge existieren noch mehr, doch sie lebten nicht auf der Erde. Für meine Familie und mich lebte es sich ganz gut. Auch wir dienten einem Engel. Jedoch hatten wir es um einiges besser, als all die anderen, die auf diesem Kontinent lebten, denn wir arbeiteten für Gabriel persönlich. 

Es gab nur eine weitere Familie, die daselbe tat. Die Familie Flynn. Die älteste Tochter von ihnen war Cora, auch bekannt als meine beste und einzige Freundin. Sie war sehr direkt und offen, doch ich liebte sie dafür. Gerade lief sie neben mir und summte mit mir.

Wir waren einkaufen. Es gehörte zu unseren Aufgaben. In meinem rechten Arm hielt ich ein Buch. Eigentlich war es den Menschen untersagt sich zu bilden, weshalb auch keiner lesen oder schreiben konnte. Wir mussten es auch nicht können. Doch Cora, meinen Geschwistern und mir wurde es beigebracht, denn wir waren ja nicht irgendwelche Menschenfamilien.

Eine weitere Aufgabe von uns war es nämlich, sich um die Kinder von Gabriel und seiner Frau zu kümmern. Sie waren total brav und gut erzogen. Jedenfalls mussten wir ihnen auch vorlesen, oder ihnen bei Hausaufgaben helfen und dafür musste man lesen und schreiben beherrschen. Wenn man das, was sie von der 'Schule' mit nach Hause brachten überhaupt als Hausaufgaben bezeichnen konnte.

Ich persönlich hatte nie eine Schule besucht. Genauso wenig wie meine Eltern, oder Cora. Alles was wir wussten hatten wir von Gabriel gelernt. Damals hatte er sich extra dafür Zeit genommen. Wie gesagt, wir hatten Glück mit ihm.

"Gestern ist der Rat der Engel wieder zusammengekommen", sagte Cora plötzlich leise, weshalb auch ich verstummte und aufhörte zu summen.

Der Rat der Engel trat einmal im Jahr zusammen. Alle Erzengel trafen sich, um wichtige Dinge zu bereden, doch wie bereits erwähnt: Engelspolitik ging Menschen nichts an. Wir erfuhren nur das, was sie uns zu erfahren gestatteten. Meistens geschah soetwas durch Regeländerungen. 

"Ich weiß. Jeder weiß das, doch keiner redet darüber, Cora. Es ist uns verboten, schon vergessen?", fragte ich sie. Es kam des öfteren vor, dass sie Regeln vergaß. Wären wir gerade nicht auf offener Straße, wäre es mir egal. Auch mich nervten die meisten Regeln, doch wenn man sie nicht einhielt wurde man bestraft. Meistens hart.

"Deshalb habe ich es ja auch leise gesagt, du Doofie", sagte sie, wieder leise. Ich dagegen hatte laut gesprochen, weshalb ihre Worte nun wie ein kleiner Tadel klangen. Jedoch würde ich nicht auf diese Diskussion eingehen. Nicht hier, wo uns jeder sehen und hören konnte. Engel hatten ihre Ohren überall.

"Zuhause", flüsterte ich und seufzend nickte sie. Wir bogen um eine Ecke und erblickten das einzige gepflegte Grundstück in der Nähe. Es war das Anwesen von Gabriel. Groß, weiß - es erinnerte einen an das weiße Haus, wenn es noch stehen würde. Ich hatte nur Bilder gesehen, doch ich konnte auch froh sein, dass ich überhaupt noch etwas aus der Vergangenheit auf einem Bild gesehen habe.

Wir betraten das Grundstück und grüßten die Engel, die am Tor Wache hielten. Trotz allem gibt es noch immer Menschen, die versuchen die Engel zu stürzen. Es war verständlich, denn einst gehörte die Erde nur uns, doch irgendwann würden auch sie einsehen müssen, dass es nichts bringen würde. Die Engel waren mächtiger als wir, da hatten Menschen einfach keine Chance.

Cora war diejenige, die die Tür aufschloss. Wir traten in eine Empfangshalle. Hier standen nicht viele Möbel, weshalb sie leicht kahl wirkte, doch soweit ich wusste war das Absicht. Engel standen nicht so auf Dekorationen. Als wir das Einkaufszeug in der Küche abgestellt hatten machten wir uns auf den Weg in unsere Zimmer. Dort würden wir uns umziehen.

Hinter mir schloss ich die Tür. Mein Reich war zwar klein, doch ich war der Meinung, dass es relativ gemütlich eingerichtet war. Wir genossen große Vorteile gegenüber den 'normalen' Menschen. Einem voran: Mehr Geld. Aber wir hatten auch das Glück, dass Gabriel mit unserer Arbeit zufrieden und deshalb sehr großzügig war. Im Großen und Ganzen lebten wir normal.

Zwei meiner Wände waren weiß, die anderen zwei hatten einen hellen Lilaton. Mein Bett stand unter dem Fenster, daneben war ein Regal voll mit Büchern. An meinem Geburtstag bekam ich immer eins von Gabriel geschenkt. Doch deshalb war es nicht so voll. Zwischendurch kaufte ich mir selber auch noch welche. Mein Neuste legte ich auf das Bett.

Dann ging ich zu meinem Kleiderschrank und nahm mir das schlichte weiße Kleid raus. Meine Arbeitskleidung. Sonst konnten wir tragen was wir wollten - wieder ein Vorteil, weil wir für Gabriel arbeiteten. Die anderen mussten immer ihre Dienst - oder Sklavenkleidung tragen. 

Als ich es angezogen hatte betrachtete ich mich im Spiegel. Groß, komisches blondes Haar - ich denke, dass die Menschen sie sich früher gefärbt hätten - große, grau-grüne Augen und eine viel zu dünne Figur. Normalerweise müsste dieses Kleid mir eng am Körper anliegen, wie bei Cora, doch das tat es nicht. Einerseits lag es wahrscheinlich an den Genen, denn meine zwei Geschwister und meine Mutter sind ebenfalls verdammt dünn, andererseits kommt es wahrscheinlich auch davon, dass öfter nicht zum Essen komme, weil ich es entweder total vergesse, dann lese ich meistens, oder weil ich einfach keine Zeit habe.

Meine Haare waren brustlang und nicht wirklich Glatt. Es waren ganz leichte Locken. Ich band sie mir zu einem Pferdeschwanz, schlüpfte in meine ebenfalls weißen Ballerinas und öffnete dann die Tür. Es war zehn Uhr am Morgen und nun würde mein eigentlicher Arbeitstag beginnen.

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