Kapitel 22

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Asyl? Weshalb benötigte sie das? Ich wusste nicht einmal, dass es so etwas in der Welt der Engel gab. Doch ich war nicht die einzige, die überrascht zu sein schien. Raziel nahm sie fest, denn schließlich mussten wir trotz allem vorsichtig sein. Sie könnte auch nur ablenken wollen. 

"Was für Hilfe könntest du anbieten? Und weshalb bist du hier?" Es war Raphael, der das wissen wollte. Er setzte sich auf einen der Stühle und sah sie dabei an, während ich mich zu Dave stellte. Von allen wirkte er am ruhigsten. Vermutlich, weil er sie kannte. 

Sie sah zu ihm. Dave nickte nur, bevor sie sich wieder Raphael widmete. "Ich kenne seine Pläne, was Europa angeht. Und geflohen bin ich, weil ich um mein Leben fürchten muss", erklärte sie und nun schien Raphael aufmerksam zu werden. 

"Weshalb muss Gabriels beste Soldatin fürchten, getötet zu werden?", wollte er wissen. Ich musterte sie. Sie trug zivil. Normale Sachen, die auch normale Engel tragen würden. Wer sie jetzt sehen würde und sie nicht kannte, könnte glatt glauben, sie sei ein normaler Engel. Nur der Gürtel mit dem Schwert hätte sie verraten. 

"Weil ich Gabriel verachte und mich offen geweigert habe, gegen Europa in den Krieg zu ziehen." Mit dieser Antwort schien niemand hier gerechnet zu haben. Sie war nicht irgendjemand, der geflohen war und nicht wusste wohin. Nein, sie wusste genau, was sie tat und was es für Konsequenzen hatte. 

Ich erinnerte mich daran, wie sie erzählte, dass sie in Amerika viel verändert hatte und Gabriel grausamer geworden war. Die Art wie sie das gesagt hatte, ließ damals schon erkennen, dass sie keiner der Engel war, der Menschen hasste. 

Auch wenn Raphael überrascht war, schien ihm das nicht zu genügen. "Wenn du gegen diesen Krieg bist, weshalb sollten wir dir vertrauen?", fragte er. Sie seufzte. 

"Ich will nicht auf Gabriels Seite kämpfen. Er ist grausam und die Menschen leiden unter ihm. Selbst Engel", sagte sie und ich wusste, worauf sie hinaus wollte. Das musste sie nicht einmal aussprechen, auch wenn sie es tat; sie wollte in Raphaels Armee dienen. 

"Du musst mir nicht vertrauen", fuhr sie fort. "Aber ich werde dir treu ergeben sein." Während sie das sagte, ging sie erneut vor ihm auf die Knie. "Gabriel hat vor, noch in dieser Nacht London anzugreifen. Ein Heer von 300 Engeln ist auf dem Weg hier her." Sie verriet gerade ein Geheimnis, welches vermutlich nicht einmal alle auf Gabriels Seite wussten. Es schien, als wäre sie erst geflohen, nachdem sie von dem Plan erfuhr. Sie hatte von Anfang an vor, zu helfen. 

Raphael nickte und die Frau stand wieder auf. Raphael tat es ihr gleich und sie verbeugte sich noch einmal vor ihm. Für einen Menschen wirkte dies komisch. Ein Blick zu Cora verriet mir, dass auch sie diese Geste nicht ganz verstand, denn schließlich war sie bereits vor ihm auf die Knie gegangen. Doch ich würde nicht nachfragen. Jedenfalls nicht jetzt. 

Einige Minuten später, fuhr Raphael sich verzweifelt durchs Haar. Azzurra, die scheinbar unsere neue Verbündete war, hatte ein Zimmer zugewiesen bekommen und sollte sich dort einrichten. Tatsächlich hatte sie Sachen mitgebracht. Unter anderem einen Bogen. 

"Wir sollten in den Bunker, Raphael", sagte Raziel, als Raphael noch immer hin und herlief. Doch sofort schüttelte dieser den Kopf. "Wir müssen evakuieren. Wenn er mit einem 300 Mann starkem Heer hierher kommt, wird er Zivilisten töten", entgegnete Raphael und klang ehrlich besorgt um die Bewohner Londons. Er sprach noch nicht einmal nur von den Engeln. 

Und diese waren die einzigen, die Zugang zu den öffentlichen Bunkeranlagen hatten. Auch bei Gabriel. Natürlich hatten reichere Engel sich Private gebaut und konnten dorthin mitnehmen, wen auch immer sie wollten. Aber soweit ich wusste, ließen Wachen Menschen nicht in die Anlagen hinein, die in den Großstädten verteilt waren. 

Raphael sprach davon, dass Heer in London verteidigungsfähig zu machen und Dave machte sich an die Arbeit. Malia half ihm dabei. Dabei kam mir eine Frage auf und auch, wenn ich wusste, dass es besser wäre, jetzt den Mund zu halten, musste ich es wissen. 

"Müssen alle Engel kämpfen?" Im Grunde war es eine dumme Frage. In den Büchern, die ich gelesen habe, mussten auch nicht alle Menschen in Kriegen kämpfen. Doch Engel waren keine Menschen. Ihre Gesellschaft funktionierte etwas anders. 

Raphael sah zu mir. "Die Männlichen. Und die Wächter. Sie sind ausgebildet und die besten Krieger im Heer. Aber jemand ohne Ausbildung am Schwert wird auch nicht kämpfen", erklärte er und setzte sich auf den Stuhl. Ein Blick zu Raziel und er nickte bestätigend. Doch er schien sich auch Sorgen um seinen Bruder zu machen. 

"Es heißt immer, es brauchte nicht viele Engel, um die Menschheit zu unterdrücken." Es war ein wunder Punkt und Raphael könnte gereizt auf diese Frage reagieren. Als meine Mutter dies einmal Gabriel gefragt hatte, sagte dieser in unsanften Ton, dass nicht alle Engel Menschen unterdrücken. 

"Brauchte es auch nicht", gab Raphael ehrlich zu und schmunzelte etwas. Ich wusste nicht, was ihn daran so amüsierte, denn ich fand es nicht lustig. "Die Größe von Raziels Heer reichte", fuhr er fort und nickte zu seinem Bruder, der erneut zustimmte. Ich wusste nicht, wie viele Engel für ihn als Krieger tätig waren, aber allzu viele mussten es nicht sein. 

"Aber Erzengel gegen Erzengel ist was anderes, City. Wir kämpfen nicht darum, die Erde einzunehmen. Es geht um Macht. Europa würde mehr Macht für Gabriel und Michael bedeuten. Sie hätten mehr im Rat der Engel zu sagen." Dieses mal klang er ernst. Mir war nicht bewusst wie viel Einfluss man hatte, wenn man über einen bestimmten Kontinent herrschte. Und ich verstand auch nicht, was so besonders an Europa war. Für mich war er nicht besser als Amerika. 

Doch ich akzeptierte die Antwort schweigend. Es vergingen nur wenige Minuten, bis eine Sirene zuhören war. Dann eine zweite. Sie warnten die Bewohner vor, damit sich alle noch rechtzeitig in Sicherheit bringen konnten. 

Raphael stand nun wieder auf. "Nehmt euch die Sachen mit, die du für die Nacht brauchst. Und dann lasst euch von Dave den Weg zum Bunker zeigen", sagte er zu Cora und mir. Wir nickten fast synchron und gingen in unser Zimmer. 

Was würde man für eine Nacht im Bunker brauchen? Schlafzeug, dachte ich. Doch war dort wirklich genug Platz, um mich umzuziehen? Stattdessen zog ich mir jetzt etwas gemütliches an. Ich schnappte mir mein Zahnputzzeug aus dem Bad, obwohl ich nicht wusste, ob wir dort unten ein Waschbecken hatten. Sicher war sicher. 

Dann nahm ich mir noch das Buch, welches Raphael mir gegeben hatte. Fertig war ich. Und auch Cora hat nur wenige Dinge mitgenommen. Dann deutete sie auf meine Bücher. "Darf ich eins?", fragte sie. Automatisch griff ich nach einem und reichte es ihr. Sie wusste, dass sie nicht fragen musste und tat es dennoch immer wieder. 

Dann verließen wir das Zimmer und machten uns auf die Suche nach dem Blondschopf. Vielleicht sollte das mein neuer Spitzname für Dave werden, dachte ich schmunzelnd. Es dauerte nicht allzu lang, bis wir ihn fanden. Doch er wirkte nicht so locker und unbeschwert wie es die meiste Zeit über der Fall war. Vermutlich war das den Umständen geschuldet.

Der Bunker befand sich nicht in der Nähe des Hauses und wenn ich so darüber nachdachte, dann machte es sogar Sinn. Wenn Gabriel schlau war, würde er dort zuerst angreifen. Da war es besser, wenn keiner von uns anwesend war. Vielleicht würde mir das auch ein paar Albträume ersparen, denn die Geschichten über die Vergangenheit besagen, dass Kriege einem lange im Gedächtnis bleiben. 

Als wir in den Bunker stiegen, begann es zu regnen. Auch, wenn ich ihn nicht oft riechen konnte, liebte ich den Geruch, der sich verbreitete, wenn es aufhörte zu regnen. Vielleicht würde es die Nacht durchregnen und ich bekam die Chance dazu. 

Der Bunker war größer als ich erwartet hatte. Doch mit all den Personen hier drinnen, wirkte er dennoch klein und eng. Die gesamte Dienerschaft war hier und ich atmete erleichtert aus, als ich auch Skylar zu Gesicht bekam. Ich umarmte sie und sie erwiderte meine Umarmung. Jedoch nur kurz. Offensichtlich durfte sie nichts mit hier runter nehmen. Aber sie war in Sicherheit und das zählte. 

Cora und ich bekamen eine Matratze zugeteilt. Es gab nicht einmal ein Bettgestell. Und in dem Raum des Bunkers, in dem wir die Nacht verbringen sollten, befanden sich noch all die anderen Diener. Ich zog meine Beine an und umschlang sie mit den Armen, denn ich begann mich unwohl zu fühlen. 


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