Kapitel 37

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Die erste Nacht in meinem neuen Zimmer war seltsam. Ich war allein. Es ist lange her, seitdem ich etwas Privatsphäre hatte. Und mir gefiel es. In Ruhe lesen zu können. Nachzudenken. Letzteres hatte mich sogar eine Weile vom Schlafen abgehalten. Ich hatte über Raphael und mich nachgedacht. Wie unsere Zukunft aussehen würde, wenn wieder Frieden herrscht. 

Auch, wenn ich keine Zweifel haben wollte, fragte ich mich, ob er öffentlich zu mir stehen würde. Wie viel seiner Macht er bereit wäre, für mehr Freiheit zu opfern war auch etwas, was ich mich fragte. Er war es gewohnt, das Sagen zu haben. Würde er das aufgeben? Zum Teil vielleicht. Doch irgendwann würde der Zeitpunkt kommen, an dem die Menschen und Engel noch mehr Freiheiten wollen. Demokratie. Dann konnte es gut sein, dass sie jemand anderen an der Spitze wollen. 

Seufzend setzte ich mich am Morgen auf. Ich sollte im hier und jetzt leben. Die Zukunft ergab sich schon von selbst. Es war das erste mal, dass ich nicht darauf achtete, wie eine Dienerin gekleidet zu sein. Ich zog Sachen von Azzurra an, die sie mir geliehen hatte. Als ich sie ihr gestern zurückgeben wollte, meinte sie, ich solle sie behalten.

Dann ging ich hinunter in die Küche. Der Tisch im Esszimmer war bereits zum Frühstücken gedeckt. Doch es standen zwei Teller mehr als sonst darauf. Freya war mir irgendwie klar. Aber wem gehörte der andere? In der Küche traf ich Dave, der mir automatisch eine Tasse Kaffee reichte. Wie ich den vermisst hatte.

"Ich will mich nicht an diesen Tisch setzen", gab er zu. "Wieso?", wollte ich neugierig wissen und nippte an meiner Tasse, während ich mich an die Theke lehnte. "Freya und Michaela", antwortete er. Michaela? Stimmt, sie hatte sich ja für gestern angekündigt gehabt. Das hatte ich in all dem Trubel komplett vergessen.

"Übrigens ist Brooke bereits gegangen. Aber sie sagte, sie würde sich schon sehr bald melden", sagte er, als wir uns dann langsam zum Tisch bewegten. Cora und Azzurra kamen ebenfalls gerade in den Raum und lächelten uns beide an. Wir setzten uns. Und Gespräche nahmen ihren Lauf. 

Erst das übliche. Wie wir geschlafen hätten. Ob jemand seltsame Träume hatte. Meist war es Dave. Und die Art, wie er sie wiedergab, war auch recht amüsant. Mit Händen und Füßen gestikulierte er dann. Das war immer wieder sehr erfrischend. Doch alles wurde still, als die zwei Brüder mit Freya und Michaela den Raum betraten. 

Während Raphael sofort neben mir Platz nahm und auch Freya sich stumm setzte, wirkte Michaela geschockt, als sie Cora und mich sah. "Warum sind Menschen hier, Raziel?", wollte sie wissen. Ich konnte sie verstehen. Normalerweise saßen Menschen auch nicht bei Engeln am Tisch. Doch in diesem Haus war sowieso nichts normal. 

"Sie gehören zu Raphael", antwortete Raziel und setzte sich. "Ich will, dass sie gehen. Sie sollen putzen und arbeiten, wie es sich gehört." Freya nickte zustimmend. Da hatten sich ja zwei gefunden, dachte ich. Michaela war für mich das genaue Gegenteil von Raziel. Ich verstand nicht, wieso er seine Macht freiwillig mit ihr teilte. 

Raphael, der bis gerade eben noch gegessen hatte, sah nun auf. Ihm schienen Michaelas Worte nicht zu gefallen. Doch es war Dave, der etwas sagte. "Es geht nur Raphael etwas an. Er ist schließlich ein Erzengel", begann er. "Genauso wie Raziel, der nichts dagegen hat. Du hingegen bist keiner, nur weil du dir mit ihm die Herrschaft teilst." Das war seine Art, ihr zu sagen, dass sie still sein sollte. 

Nun musterte sie Azzurra. "Und sie? Sie ist eine abtrünnige Kriegerin Gabriels", sagte sie und sah sie abfällig an. "Sie kann dich hören", entgegnete Azzurra scharf. Viel von Michaela zu halten schien sie nicht. Gut. Scheinbar tat das hier niemand, außer vielleicht Freya und Malia. Obwohl letztere den Mund hielt. 

"Sie hat mir die Treue erwiesen", sagte Raphael dann. "Und heute Morgen habe ich öffentlich verkünden lassen, dass Menschen und Engel gleich an Rechten sind. Niemand muss mehr putzen", fuhr er fort. Er hatte das Gesetz bereits verkündet? Nun musste ich leicht lächeln und sah zu ihm. 

Auch er erwiderte nun den Blick mit einem Lächeln auf dem Gesicht. Kurz sah er noch einmal zu Michaela. "Also pass auf, was du über Menschen sagst oder wie du sie behandelst. Sklaverei gibt es nun nicht mehr." Geschockt sah Michaela zu Raziel, doch dieser aß nun weiter sein Frühstück. Und beachtete sie nicht länger. 

Also beschloss ich das gleiche zutun. Irgendwann hatte auch sie sich gesetzt und mit dem Essen begonnen. Als wir alle fertig waren, stand Raphael auf. Cora und Azzurra räumten den Tisch ab. Wir hatten noch gestern Abend beschlossen, dass dies abwechselnd geschehen würde, damit trotzdem immer etwas auf dem Tisch war. So würde die Hausarbeit gut aufgeteilt sein. 

Michaela und Freya blieben sitzen. Dave beschloss, den beiden Mädels zu helfen. Und ich hielt Raphael am Arm fest, bevor er den Raum verlassen konnte. Fragend drehte er sich zu mir um. Da ich nicht wusste, wie viel Michaela wusste und was Raphael preisgeben wollte, lächelte ich ihn nur an. 

"Danke", sagte ich. Ich wusste, nur weil ich es verlangt hatte, wurde das Gesetz schon jetzt verabschiedet. Sonst hätte er gewartet, bis der Krieg vorbei war. Auch er lächelte erneut. Seine Hände legten sich an meine Taille und es war leicht für mich, zu vergessen, dass auch noch anderen in diesem Raum waren. 

"Du musst dich nicht bei mir bedanken", meinte er dann. "Niemals." Aber das würde ich trotzdem. Denn ohne ein 'Danke' würde alles so selbstverständlich wirken und das war es eben nicht. Gabriel hätte diesen Schritt nie gewagt. Genauso wenig wie Michael. Aber er hatte es getan und das auch meinetwegen. Also fand ich, dass dieses 'danke' berechtigt war. 

Dann küsste er mich. Vor den anderen. Vor Freya und Michaela. Malia hatte vermutlich bereits etwas geahnt, denn schließlich lebte sie hier und war klug genug, so etwas zu merken. Keiner von uns beiden unterbrach den Kuss. Nein, es war die Stimme von Michaela. "Ich wusste, dass das nicht auf deinem Mist gewachsen ist", sagte sie. 

Wir lösten uns voneinander und sahen beide zu ihr. Raphael ließ mich dabei jedoch nicht los. "Sie manipuliert dich", schlussfolgerte sie aus diesem Kuss. War das ihr ernst? Glaubte sie das tatsächlich von mir? Ich war nicht Freya. Natürlich wollte ich, dass es den Menschen besser ging. Schließlich war auch ich einer und ich wusste, wie es sich anfühlt, nichts zu sagen zu haben. 

Aber ich tat es auch für die Engel. Damit beide Spezies in Frieden miteinander leben können. Und ich würde Raphael nicht verlassen, wenn all das vorbei ist. Ich würde an seiner Seite bleiben. Dem war ich mir sicher. 

"Und weißt du, warum sie das kann?", fuhr Michaela fort. "Weil du sie liebst." Nun sah ich zu Raphael. Liebe. Mir war klar, dass es sich um solche Gefühle von uns beiden handelte. Doch das zu hören, war etwas anderes. Aber es hörte sich richtig an. Ja, ich war mir ziemlich sicher, dass es Liebe war. 

"Nur wissen wir beide, Raphael, dass ein Mensch einem Engel gegenüber niemals solche Gefühle aufbringen kann. Sie spielt dir nur etwas vor." Jetzt sah auch Raphael zu mir. Er musterte mein Gesicht. Schien nach irgendetwas zu suchen. Glaubte er ihr etwa? Natürlich wäre es leichter für ihn, ihr zu glauben, nachdem bereits einmal mit ihm gespielt wurde. 

Langsam ließ er mich los und ging einige Schritte zurück, bevor er ohne ein weiteres Wort nach oben ging. Und ich hasste Michaela. Sie versuchte, uns alle auseinander zu reißen. Das konnte ich bereits jetzt sagen. Im Gegensatz zu Freya blieb sie nicht stumm. Freya kannte ihren Platz hier. Sie wusste, dass sie unerwünscht war. Aber Michaela? Sie hatte eine gewisse Macht. 

Malia stand auf. Stumm sah sie zu Michaela, bevor sie los lief und mich mitzog. Nach oben in mein Zimmer, wo wir uns beide einfach auf mein Bett setzten. Sie hatte den ganzen Weg hier her nichts gesagt und ich war gespannt, was sie zu sagen hatte.

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