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Nach sehr, sehr langer Zeit krochen wir aus der Kanalisation. Ich war doch ein wenig enttäuscht, als ich sah, dass es hier draußen auch nicht heller war als in den stinkenden, finsteren Gängen; es war Nacht und das einzige, was Licht spendete, waren der Mond und das fast erloschene Leuchtstäbchen in Jase' Hand.

Wenigstens wirkten die Ruinen um uns herum in der Dunkelheit nicht ganz so groß, wenn auch nicht minder bedrohlich. Ich wollte gar nicht wissen, was sich darin alles verbarg. 

"Jase, was machen wir hier?"

"Nicht so laut. Es gibt das Gerücht, dass ..."

"Lass mich raten: Dass hier draußen Menschen leben?"

"Ja. Das auch. Aber mir geht es mehr um die wilden Tiere", flüsterte er. "Komm jetzt. Ich möchte vor Anbruch des Tages dort sein."

"Wo ist dort?", hakte ich nach. 

"Siehst du dann."

Ich blieb stehen und verschränkte die Arme vor der Brust. "So mache ich keinen Schritt weiter. Weißt du, was mit mir passiert wäre, wenn du mich nicht gerettet hättest? Ich wäre aus Lacrima verbannt worden. Und nun führst du mich in diese Gegend außerhalb der Stadt und erzählst mir nicht einmal, was du vorhast? Und das alles, nachdem wir stundenlang durch eine stinkende Kanalisation gelaufen sind, mit nichts weiter als Leuchtstäbchen als Beleuchtung? Jase Ryan, du wirst mir jetzt sofort erklären, was du vorhast, oder ich gehe zurück und warte meine offizielle Verbannung ab."

Ich war inzwischen ziemlich gut in leeren Drohungen geworden, wenn meine Worte dieses Mal auch ziemlich unsinnig waren. 

Aber Jase runzelte nur die Stirn - na ja, so gut ich das im Schein des Leuchtstäbchens erkennen konnte - und fragte: "Warte mal, was? Wann wärst du verbannt worden?"

"Morgen."

"Du verarscht mich." Er lachte, aber es klang nicht fröhlich. "Willst du mir ernsthaft erzählen, dass ich mir hier einen ausgeklügelten Plan ausgedacht und dich durch eine potenziell gefährliche Kanalisation geführt habe, obwohl ich genau so gut hier draußen hätte auf dich warten können?"

"Äh, ja, schätze ich." 

Er schüttelte immer noch lachend den Kopf, bevor er wieder ernst wurde. "Gut. Komm, wir haben eigentlich gar keine Zeit für so etwas. Während wir gehen, erkläre ich dir auch, wohin ich dich bringe."

"Okay", stimmte ich zu. Und dann gingen wir los. Ich starrte den Boden an und bemühte mich, nicht daran zu denken, dass wir durch eine verlassene Stadt außerhalb von Lacrima irrten, während ich Jase' Worten lauschte (es gelang mir nicht wirklich):

"Also, ich führte dich jetzt zu einer Gruppe von Leuten, die hier außerhalb der Stadt leben. Keine Angst, sie sind nicht gefährlich ..."

"Rebellen?", unterbrach ich ihn mit schriller Stimme.

"Nicht so laut!", zischte er. "Ja. Wenn du es so nennen willst. Rebellen. Aber sie ..."

"Nein", unterbrach ich ihn abermals und blieb abrupt stehen. "Ich komme nicht mit."

"Das ist jetzt nicht dein Ernst." Er sah mich verwirrt an. "Wieso das denn?"

"Mein Vater", antwortete ich und schämte mich dafür, dass meine Stimme zitterte. "Mein Vater wurde von den Rebellen getötet. Also, eigentlich wollten sie nicht ihn töten, sondern den Präsidenten. Mein Vater hat als Bodyguard gearbeitet, was zu dieser Zeit enorm gefährlich war - na ja, ist es jetzt eigentlich immer noch -, und hat den Präsidenten beschützt. Die Kugel hat ihn getroffen. Geld haben wir dafür keines bekommen. Nicht einmal ein Dankeschön oder eine staatlich organisierte Beerdigung. Es hat niemanden interessiert. Und die Rebellen, denen war es auch egal, was sie angerichtet hätten. Dabei sollte es doch gerade Gegnern des Systems nicht egal sein, wenn Familien verhungern, weil sie ihren Haupternährer verloren haben. So. Ich gehe zurück. Geh doch allein zu deinen Rebellen und werde zum Mörder. Wenn du es nicht bereits bist."

"Jetzt halt mal die Luft an!", unterbrach er meinen Wortschwall energisch, bremste sich aber schnell, als er merkte, dass nun er es war, der herumschrie und wilde Tiere anlockte. "Schön, die Rebellen haben unabsichtlich deinen Vater getötet und es war ihnen egal. Selbst wenn wir hier von den gleichen Rebellen sprechen würden, so kannst du es dir in deiner Situation echt nicht leisten, derart wählerisch zu sein. Willst du lieber hier draußen verrecken? Aber es ist eigentlich auch egal. Wir sprechen nicht von den gleichen Rebellen. Meine Rebellen ... rebellieren nicht wirklich. Zumindest nicht aktiv. Sie leben nur ... außerhalb des Systems."

"Ach." Ich wusste nicht ganz, ob ich seinen Worten Glauben schenken sollte. Wieso sollte es bitteschön zwei Gruppierungen von Rebellen geben? Das machte ja mal absolut keinen Sinn. Aber in einer Sache hatte er klar recht - wenn ich nicht sterben wollte, musste ich mitgehen. 

Mit einem leisen Seufzer setzte ich mich wieder in Bewegung. "Wie weit ist es noch?"

"Etwa zwei Stunden."

FakeWhere stories live. Discover now