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Die nächsten Tage zogen einfach so an mir vorbei. Alles war grau und stumpf, das Einzige, was in schreienden Farben leuchtete, waren meine Albträume. Ich schreckte regelmäßig schreiend und schweißüberströmt aus dem Schlaf hoch, weil ich Blue, Felicitas, Sydney oder andere Mädchen hatte sterben sehen. Oder Jase. Er tauchte am meisten von allen auf. 

Ich begann bald, zu arbeiten. Es war nichts Besonderes, eine Fabrik, die Kleidung herstellte. Ich musste Nähte überprüfen und so ein Zeug. Ich hatte sogar schon einmal dort gearbeitet - als Ferienjob, als mir ein anderer Arbeitgeber für zwei Wochen frei gegeben hatte. 

Wenn ich von der Arbeit nach Hause kam, ging ich meist gleich ins Bett, wo ich dann bis um Mitternacht wach lag. Joy und ich sprachen wenig miteinander, bis zum Tod unserer Mutter. Dann trauerten wir gemeinsam, lagen nachts gemeinsam wach, versuchten, das Herz des jeweils anderen am Brechen zu hindern. Ich hatte noch nie so viele Tränen vergossen wie in dieser Zeit. Aber ich möchte hier gar nicht näher darauf eingehen. Alte Narben reißen wieder auf, wenn ich darüber schreibe, und das möchte ich nicht. Ich habe gelernt, Abstand davon zu halten. Das musste ich, wenn ich überleben wollte. 

Ich würde hier lieber einige Tage vorspulen, auch wenn dies einigen Lesern vielleicht nicht gefallen wird. Mir ist bewusst, dass ich die Geschichte an dieser Stelle zu sehr auf ihre Handlung runterbreche, aber ich kann nicht.

Noch nicht. 

Ich kann noch nicht mehr darüber schreiben. 

Also: 

Einige Tage nach dem Tod meiner Mutter tauchte Jase Ryan vor meiner Tür auf, eine angepisst aussehende Blue im Schlepptau. 

Ich war überrascht, dass ich vor Schreck nicht ... explodierte oder so. Nun wusste ich, wie Joy sich gefühlt haben musste, als ich vor ihrer Tür stand. 

"Hey, Mira." Jase grinste schief. 

"Hi." Als sie mich sah, wirkte Blue ein wenig besänftigt. Wahrscheinlich hatte sie nicht damit gerechnet, mich hier anzutreffen. Ich konnte es ihr nicht verübeln. Ich war ja selbst wahnsinnig überrascht, dass sie noch am Leben waren.

"Warum seid ihr ... wie habt ihr ... woher wisst ihr ...", stammelte ich. 

Jase' Grinsen verblasste. "Wir sind entkommen. Ganz einfach. In dem Durcheinander geflohen, dann haben wir uns außerhalb des Unterschlupfs gefunden. Ob sonst noch jemand am Leben ist, wissen wir nicht. Aber Blue hat gesehen wie einer der Schützen mit dir gesprochen hat und wir beide waren der Überzeugung, dass du nicht tot sein kannst. Wir haben dich schon überall gesucht, Mira ..."

"Obwohl wir selbst gesucht werden", fiel Blue ihm ins Wort. "Er hat mich dazu überredet, für dich. Was Mr Jase Ryan für dich getan hat, meine Liebe, ist offensichtlich, also bitte leugne jetzt nicht eure gegenseitige Zuneigung."

Jase und ich sahen uns an und zum ersten Mal seit langem musste ich herzhaft lachen. Er stimmte in mein Lachen mit ein, und einen Moment lang verblasste alles andere. 

"Mira?"

Ich fuhr herum, das Lachen blieb mir im Hals stecken. Joy stand hinter mir und sah die Besucher argwöhnisch an. 

"Joy, das sind Jase und Blue, meine Freunde ... von den Rebellen. Jase, Blue, das ist meine Schwester Joy", sagte ich schnell. 

Sie stemmte die Hände in die Hüften. "Hallo, Jase und Blue. Ihr könnt hier aber nicht bleiben. Wir können schon uns selbst kaum ernähren und als gesuchte Verbrecher werdet ihr nicht allzu schnell eine Arbeit finden, um selbst Geld zu verdienen, denke ich."

"Oh, wir wollen nicht bei Ihnen bleiben, Miss Haze", sagte Jase freundlich. "Wir sind hier, um Mira mitzunehmen."

Joys Gesichtsausdruck wandelte sich von Misstrauen zu Entsetzen. "Oh nein. Das kommt gar nicht in Frage. Wohin auch immer. Sie ist gerade erst zurück gekommen und ich werde sie nie wieder gehen lassen." Sie legte mir die Hand auf die Schulter und funkelte meine Freunde wütend an. 

"Das ist meine Entscheidung, Joy. Und ich will gehen", entgegnete ich. "Aber du ... kannst du nicht mitkommen?"

Meine Schwester stieß ein trockenes Lachen aus. "Mitkommen? Klar. Wohin denn? In ein Leben außerhalb von Lacrima, zusammen mit Leuten, von denen ich nicht weiß, ob sie mich im nächsten Moment umbringen? Nein danke, ich verzichte", fauchte sie. 

Jase warf Blue einen langen Blick zu, dann sah er wieder mich an. "Liegt das bei euch in der Familie oder so?"

"Ich habe dir von meinem Vater erzählt", zischte ich. "Und Joy, das sind nicht diese Rebellen. Das hier sind andere Rebellen. Bitte. Vertrau mir. Komm mit."

Ich sah ihr an, dass sie zögerte. "Aber hier ... hier ist mein Leben, mein Job, mein Haus ..."

"Und was ist das für ein Leben? Ich weiß ja nicht, wie es dir geht, aber ich möchte weg von hier", unterbrach ich sie. "Ich gehe jetzt. Komm mit oder lass es. Aber ich gehe jetzt." Während ich das sagte, hoffte ich von ganzem Herzen, sie würde mitkommen. Ich konnte nicht noch jemanden verlieren. 

"Gut", schnaubte sie schließlich. "Gut, ich komme mit. Was auch immer ihr vorhabt. Aber wenn ihr beide" - sie deutete zuerst auf Jase, dann auf Blue - "meint, ihr könnt Mira irgendetwas antun, dann kriegt ihr es mit mir zu tun. Und ich bin stärker als ich aussehe."

Ich umarmte meine Schwester. "Danke", flüsterte ich.

Sie schüttelte nur den Kopf.

Und dann gingen wir. 

"Wo gehen wir hin, Jase?", fragte ich nach einer Weile.

"Zu den anderen Rebellen", antwortete er ernst.

Ich blieb stehen. "Was?!"

Er lachte. "Das war ein Witz. Wir wissen es selbst noch nicht. In eine andere Stadt, wo man uns aufnimmt. Oder wir leben in den Ruinen und stellen den mutierten Tieren da draußen Fallen, um uns zu ernähren. Aber das Wichtigste ist, dass wir zusammen sind. Und dass wir dem blöden System in Lacrima den Kampf ansagen."

"Willst du eine dritte Rebellengruppe gründen oder was?" Es war ein Witz gewesen, aber er beantwortete die Frage ernst: 

"Du hast es begriffen."

Wo ich jetzt bin? Ich darf meinen Aufenthaltsort nicht verraten, da das uns alle in Gefahr bringen würde. Aber an alle da draußen, die diese Geschichte gelesen haben, möchte ich an dieser Stelle mal kurz das Wort richten: Falls du dich in das System von Lacrima fügst, dann fang an, zu hinterfragen. Sie wollen nur Macht und Kontrolle, es geht ihnen nicht um unseren Schutz. Ich denke, das, was ich erlebt habe, hat zur Genüge gezeigt, wie es hinter den Kulissen Lacrimas wirklich zugeht. 

Also. 

Ich danke dir, dass du meine Geschichte gelesen hast. 

Aber jetzt ist es an der Zeit, deine eigene zu schreiben. 


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