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"Mira Haze."

Zitternd saß ich auf einem gepolsterten Stuhl vor dem Mann hinter dem Schreibtisch. Es war derselbe Alpha gewesen, der mir erklärt hatte, dass ich zur Bewachung von Jase Ryan dienen sollte. 

Nun klärte er mich über das auf, was geschehen war. 

"Sie haben uns sehr geholfen."

"Wie? Ich wollte ihnen doch gar nicht helfen!"

Er lächelte. Stand auf. Ging um den Schreibtisch herum, kniete sich vor mir nieder, zog mein rechtes Hosenbein ein Stück hoch und zog etwas aus meiner Haut. Es war klein und flach, hatte genau die Farbe meiner Haut und unten daran befestigt war eine kurze, dünne Nadel, an der Blut klebte. 

"Ein Sender", erklärte er als Antwort auf meinen fragenden Blick. 

Es fühlte sich an, als wäre ich von einer der Karten meines in sich zusammenfallenden Kartehauses getroffen worden. Eine Karte mit dem Gewicht und der Größe eines ausgewachsenen Elefanten. 

"Warten Sie ... was?" Eigentlich musste ich gar nicht nachfragen. Ich hatte verstanden. 

"Wir haben Sie aufgespürt, Miss Haze. Sie und die Rebellen. Wir haben geahnt, dass Jase Ryan versuchen würde, Sie zu befreien, und von den Rebellen, die sich außerhalb der Stadt aufhalten, wussten wir schon länger, obwohl uns ihr genauer Aufenthaltsort nicht bekannt war", erklärte er. 

Ich sah wieder das Blut vor mir. Roch den metallischen Geruch, sah die Rebellinnen, wie sie eine nach der anderen zu Boden stürzten. Ich sah ihre leeren Augen vor mir, hörte die Schüsse, die fielen, spürte meinen vor Angst gelähmten Körper.

Ich. 

Ich sollte an alldem schuld sein?

Wenn man den Worten des Mannes hinter dem Schreibtisch glaubte, dann ja. 

"Damit kommen Sie nicht durch", sagte ich mit gepresster Stimme, während ich mich sehr beherrschen musste, nicht an Ort und Stelle in Tränen auszubrechen, bewusstlos zu werden, mich zu übergeben. 

"Wer will uns aufhalten, Miss Haze?", fragte er. Dann setzte er ein professionelles Lächeln auf. "Aber widmen wir uns nun wichtigeren Dingen. Weil Sie das System hintergangen haben, müssten Sie eigentlich sterben." Er sagte das so beiläufig als würde er einem Kind erklären, dass der Himmel blau ist. "Aber da Sie uns nun so geholfen haben, werden wir davon absehen, Sie mit dem Tod zu bestrafen. Sie werden zu Ihrer Familie zurückkehren und als Gamma leben dürfen, unter der Bedingung, dass sie sich ins System einfügen und sich an die Regeln halten."

Sich ins System einfügen und sich an die Regeln halten. 

Vor einigen Wochen wäre ich bedingungslos bereit gewesen, dies zu tun. 

Aber nun, nun, nachdem ich den Test hinter mich gebracht hatte, Leuten wie Caitlyn begegnet war, nachdem ich hinter die Fassade von Lacrima geblickt, die Rebellen kennengelernt und gesehen hatte, dass Menschen verschiedener Klassen problemlos zusammenleben konnten, wenn sie es wollten, jetzt, nachdem diese Leute meine Freunde vor meinen Augen kaltherzig erschossen und mich dazu gebracht hatten, an ihrem Tod schuld zu sein ...

Nun war ich skeptisch.

Ich wusste nicht, ob ich einfach noch eine normale Bürgerin von Lacrima sein konnte. 

Und was war eigentlich mit meiner Familie?

Meine Familie. 

Scheiße.

Manchmal waren sie in meinen Albträumen aufgetaucht, ja, aber nach der ganzen Geschichte mit Jase hatte ich sie bisweilen beinahe vergessen. 

Scheiße! Mit Moms Krankheit hatte doch gerade erst alles angefangen. Ich war so auf mein eigenes Überleben fokussiert gewesen, dass ich gar nicht mehr daran gedacht hatte, mir Sorgen um ihres zu machen.

"Was ist mit meiner Mutter?", stieß ich hervor. Ich spürte, wie mir die Hitze ins Gesicht stieg, die Scham, etwas derart Wichtiges einfach aus den Augen verloren zu haben.

Er atmete ein.

Aus. 

Ein. 

Aus. 

"Miss Haze, Ihre Mutter ist seit drei Tagen tot."

An dieser Stelle machte ich einen auf klischeehafte Protagonistin und übergab mich mitten auf den Boden. Tut mir leid, aber anders kann ich das einfach nicht schildern. Ich bemühe mich sowieso, ein wenig Abstand von dieser Szene hier zu nehmen, denn wenn ich sie wieder vor mir sehe, kommt alles hoch, die Übelkeit, die Panik, die Trauer und die pure Enttäuschung. Aber so viel zu dem, was mir in diesem Moment durch den Kopf ging: Ich hatte versagt. Ich hatte so was von versagt. 

Hatte ich wirklich mein Leben riskiert, ein ums andere Mal, für NICHTS UND WIEDER NICHTS? 

Das war doch nicht sein Ernst!

Der Mann hinter dem Schreibtisch rümpfte die Nase beim Anblick meines Mageninhalts auf dem Boden. Ich saß zitternd da, starrte ihn an, war unfähig, mich zu bewegen. Tot, dachte ich immer wieder. Meine Mutter war tot. 

"Man wird Sie nun nach Hause geleiten, Miss Haze", sagte er kalt. "Bitte bemühen Sie sich, den Wagen nicht schmutzig zu machen."

Ich konnte kaum gehen. Völlig schockiert und verstört ging ich mit je einer Wache auf beiden Seiten zum Wagen, der vor dem hohen Büroturm auf uns wartete. Ich weinte nicht. Ich konnte nicht weinen. All das, was geschehen war, war zu schrecklich um irgendwelche anderen Gefühle bei mir auszulösen als das blanke Entsetzen. 

Die Rebellen, meine Freundinnen und wahrscheinlich auch meine potenzielle erste große Liebe waren tot. Und ich war schuld daran. 

Und meine Mutter war auch tot. Und ich war auch schuld daran, denn ich hatte versagt. Ich hatte es nicht hingekriegt, einfach eine brave kleine Alpha zu sein, mich anzupassen, von rebellischen Aktionen abzusehen und regelmäßig das Geld zu liefern, das sie für ihre medizinische Versorgung benötigte. 

Wahrscheinlich würde mich meine Schwester sofort wieder rauswerfen, so bald ich einen Fuß über die Türschwelle unseres Hauses setzte. 

Ich konnte es ihr nicht verübeln. 


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