1. Erstes Treffen

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„Hallöchen!", rufe ich Samantha zu, als ich sie schon von Weitem an ihren blonden Haaren erkenne, die ihr in sanften Wellen bis zur Mitte ihres Rückens reichen.

Viele kennen ihren richtigen Namen gar nicht, weil sie jeder nur mit ihrem Spitznamen 'Sam' anspricht. Als sie sich zu mir umdreht, formen sich ihre Lippen zu einem breiten Lächeln und ihre blauen Augen funkeln mich nahezu an. Kaum sind wir uns in die Arme gefallen, beginnt auch schon ihr Redeschwall.

„Man ich hasse es, wenn ich zu meiner Tante muss. Das ist jedes Mal so unfassbar anstrengend, das hält ja keiner aus. Und mein Cousin ging mir so auf den Sack!"

„Wie immer", werfe ich schmunzelnd ein.

Sie stöhnt laut auf. „Urgh, wieso muss ich mir das immer wieder aufs Neue antun? Das grenzt ja an Folter."

Ich antworte ihr mit einem Lachen.

Schon wieder die Geschichte der spießigen Tante und dem nervtötenden Cousin. Es darf nicht ein Krümel auf dem Boden herumliegen, kein Möbelstück darf auch nur einen Millimeter falsch stehen. Du hast Hunger? Verhunger lieber. Alles andere könnte ja Dreck und Unordnung machen. Bloß nicht zu laut sein. Du musst husten? Erstick doch an deinem trockenen Hals. Du musst atmen? Auch zu laut, lass es einfach.

Und dann noch ihr 13-jähriger Cousin – der absolute Klugscheißer. Mit ihm kann man keine Scherze machen, weil der Junge alles viel zu ernst nimmt. Er korrigiert jeden kleinsten Fehler den du machst. Irgendwann willst du ihm einfach nur noch den Hals umdrehen und deinen Kopf gegen die Wand hämmern. Ich durfte das sogar schon ein paar Mal am eigenen Leib erfahren.

„Hey, lach' mich nicht aus!" Trotzig hat sie ihre Arme vor der Brust verschreckt und die Unterlippe schmollend vorgeschoben.

Wir verfallen beide in Gelächter und betreten das Schulgelände. Sam winkt in eine Richtung, in der prompt Justin entdecke. Grinsend gehen wir auf den Blondschopf zu und begrüßen ihn ebenfalls mit einer Umarmung.

„Sorry, aber hab 'ne Standpauke von 'ner alten Frau bekommen, weil ich bei Rot über die Ampel wollte", schnauft Dominik, als er einige Minuten später zu uns stößt und streicht sich schnaufend die dunkelblonden Haare nach hinten.

Auf seiner Stirn erkennt man sogar winzige, im Sonnenlicht glänzende, Schweißperlen.

„Dein Ernst?", fragt Justin mit einem spöttischen Unterton.

Dominik stützt sich keuchend auf den Knien ab. „Ich sterbe."

„Du stirbst gar nicht du Waschlappen", lacht Justin und nimmt ihn in den Schwitzkasten.

Sam und ich verdrehen bloß lachend die Augen, ehe wir gemeinsam ins Schulgebäude gehen.

„Morgen!", ruft die Hälfte der Klasse mit einem Lächeln, als wir Vier den Raum betreten.

Ich hebe winkend eine Hand. „Endspurt Leute. Das Wochenende ruft!"

„Endlich", stöhnt einer der Jungs und reckt die Arme in die Höhe.

Theoretisch hätte ich auch kein Problem, wenn morgen noch mal Schule wäre. Klar, ich habe das ein oder andere Hassfach, das mir absolut auf die Nerven geht, aber trotzdem gehe ich so unfassbar gern hierher. Mit meinen drei Seelenverwandten macht selbst Schule unendlichen Spaß.

Sie sind – abgesehen von meinen Eltern – die wichtigsten Menschen in meinem Leben.

Ich wüsste gar nicht, was ich ohne sie machen sollte. Außerdem habe ich die beste Klasse, die man überhaupt haben kann. Jeder Tag ist unbeschreiblich lustig und aufregend. Selbst die Lehrer sagen, eine solche Harmonie und ein derartiges angenehmes Klima wie bei uns hatten sie nur selten. Man könnte sagen, sie sind Teil meiner Familie.

Keryno - Die verborgenen VampireWhere stories live. Discover now