30. Das Fliegen

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Als wir aneinander vorbeilaufen, schlägt mein Herz so brutal gegen meine Brust, dass ich befürchte, es könne jeden Moment wie eine Bombe explodieren.

Sobald Lisa und Anna an mir vorbei sind, stoße ich erleichtert die Luft aus, die ich unbewusst angehalten habe. Ich weiß nicht, was ich gemacht hätte, wenn sie mich erkannt hätten.

Dann hätten wir ein Problem gehabt.

Ein gewaltiges.

Ich meine, wie sollte ich erklären, was ich hier tue, obwohl ich offiziell höchstwahrscheinlich als tot oder zumindest als verschwunden gelte? Wie sollte ich erklären, dass ich putzmunter herumlaufe, während die Polizei vermutlich nach mir sucht? Oder haben sie die Hoffnung doch schon aufgegeben?

‚Hi, lange nicht gesehen! Ja, Sam, Dominik und Justin wurden getötet, aber hey, ich lebe noch! Bin nur einer einer Organisation beigetreten, die Vampire tötet und suche nebenbei die Bastarde, die meine drei Freunde umgebracht haben. Da das alles aber streng geheim ist, wäre es super nett von euch, wenn ihr das für euch behalten würdet, ja? Supi, bis zum nächsten Mal! Ach nein, wir dürfen uns nie wieder sehen.'

„Meine Güte, ich penn gleich ein. Das dauert mir zu lange. Lasst uns springen", reißt Levi mich mit einem entnervten Seufzer aus meinen Gedanken.

„Du willst hier springen!? Das geht doch nicht, Menschen könnten uns sehen", entgegne ich verwirrt.

Levi lacht auf und grinst mich mit gehobener Augenbraue an. „Was denkst du wer ich bin? Wozu gibt es meine Fähigkeit?"

Fragend schaue ich ihn an. „Was meinst du damit?"

Er schnippt mit den Fingern und augenblicklich spüre ich den Wind, der mich ein Stück nach oben hebt. Fühle, wie er sich um meinen Körper schmiegt und um unsere Körper eine Art Barriere erschafft, indem er wie ein Tornado in Bewegung bleibt. Levi ballt seine linke Hand zur Faust, wodurch sich seine Muskeln anspannen. Aus irgendeinem Grund schießt mir das Blut in die Wangen und ich schaue weg.

Warum finde ich das jetzt unangenehm?

„Wow, das ist ja mal mega cool!", entfährt es mir und meine Lippen formen sich begeistert zu einem breiten Lächeln.

Neid keimt in mir auf. Ich hätte auch gern so eine abgefahrene Fähigkeit. Ich wünschte ich hätte auch eine. Stimmt, da fällt mir ein, ich wollte Kai noch wegen einem Artefakt fragen. Ich habe zwar mein eigenes Schwert, aber ein Kampf ohne jegliche Magie ist hart.

Da frage ich mich, was Levi mit seinem Wind noch alles anstellen kann und ob ihm überhaupt Grenzen gesetzt sind. Ich wusste gar nicht, dass seine Fähigkeit so vielfältig ist.

„Natürlich ist es cool. Ist ja auch mein Element!", erwidert Levi gespielt eingebildet.

Ich verdrehe lachend die Augen.

„Aber dann könntest du doch in einem Kampf die ganze Zeit über unsichtbar sein und den Gegner ununterbrochen problemlos angreifen, immerhin würde er dich nicht sehen. Somit hättest du einen enormen Vorteil", runzle ich irritiert die Stirn.

„Na das wär ja einfach", schmunzelt er. „Während der Wind mich unsichtbar macht, kann ich nichts anderes machen außer fliegen. Sobald ich irgendetwas berühre, löst sich der Wind um uns auf, selbst ein einzelnes Blatt reicht schon aus. Also seht zu, dass ihr am besten nichts anfasst."

Ich vergesse immer wieder, dass auch Levi Schwächen hat.

„Ach ja, bevor ich's vergesse. Um nach vorn zu fliegen, müsst ihr euren Oberkörper leicht nach vorn beugen, das gilt auch bei allen anderen Richtungen. Nach einer Weile geht das dann alles wie von selbst. Ihr gewöhnt euch dran", erklärt er nachträglich, ehe er voraus fliegt.

Keryno - Die verborgenen VampireWhere stories live. Discover now