44. Der Tag danach

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Ein ständiges Piksen in meiner Wange holt mich aus der erholsamen Dunkelheit, entreißt mich ihr. Murrend ziehe ich die Augenbrauen zusammen, ehe ich die Augen öffne und mit leicht verschwommener Sicht erkenne ich Sumiko. Mit einem Brötchen in der Hand steht sie neben meinem Bett und blickt ausdruckslos auf mich herab.
„Sienna, aufstehen", befiehlt sie ausdruckslos. Als ich mich aufrichte, nimmt sie ihren Finger aus meinem Gesicht. „Du sollst dich anziehen und dir eine Tasche mit bequemen und kurzen Sachen packen."

Sie dreht sich um und läuft Richtung Tür. Ich greife mit meiner rechten Hand nach ihr und will sie an ihrer Kleidung festhalten, als ich jedoch inne halte, denn die Bilder des Kampfes spuken schon wieder in meinem Kopf herum.
„Sumiko warte mal kurz", halte ich die Halbasiatin an. „Wozu das alles?"
„Urlaub."
„U-Urlaub? Wo denn bitte?"
„Meer."
Was?! Wir machen... Urlaub am Meer? Wie kommt es denn dazu!? Es sind noch nicht einmal Ferien. Gibt es sowas hier in der Keryno-Organisation überhaupt? Klar, warum sollte es das nicht.

Ich schwinge meine Beine über den Bettrand, zögere jedoch für einen kurzen Moment meine Füße auf dem Laminat abzusetzen. Das Bild des zerstörten Bodens taucht vor meinem inneren Auge auf, ebenso wie das Szenario, als jener meinetwegen zerbrochen ist. Die immer größer werdenden Risse. Die Löcher.
Was, wenn ich wieder alles zerstöre was ich berühre? Ich weiß, dass es lächerlich ist, aber ich habe trotzdem Angst. Was, wenn ich das gesamte Gebäude zum Einstürzen bringe? Ich muss daran denken, wie sehr ich nach dieser unheilvollen Macht in mir gebettelt, förmlich gelechzt habe und nun ist nichts mehr von ihr zu spüren. Alles fühlt sich genauso an wie vorher, als wäre das alles nie passiert und das Ereignis nichts als ein realistischer Traum gewesen. Wobei, so ganz stimmt das nicht. Es fühlt sich so an, als habe man mehrere Gürtel um mich geschnallt und sie unfassbar eng zugeschnürt. Es ist so einengend, so erdrückend.

Ich atme tief durch, ehe ich zögerlich aufstehe. Mir fällt ein Stein vom Herzen, als alles normal bleibt. Während ich nach einem Koffer oder wenigstens einer großen Tasche im Zimmer suche und die Aufregung langsam aber sicher Besitz von mir ergreift, erkundige ich mich: „Hast du denn deine Sachen schon gepackt?"
Sumiko schüttelt den Kopf. Ich ziehe einen großen Koffer unter dem Bett hervor. „Du hast aber nicht vor, in der Uniform Urlaub zu machen, oder?"
Als Antwort ernte ich bloß einen stummen Blick, woraufhin ich meine Hand gegen meine Stirn klatsche. Ich packe sie an ihrem Handgelenk und zerre sie aus meinem Zimmer.
„Welche Nummer hat dein Zimmer?", frage ich sie lächelnd und drehe meinen Kopf zu ihr nach hinten.
„39."

Das ist tatsächlich gar nicht mal so weit von meinem Zimmer entfernt, sodass wir nach wenigen Sekunden schon in Sumikos Reich stehen. Was mir sofort auffällt ist, dass sie kaum persönliche Dinge zu besitzen scheint, denn nirgendswo stehen Bilder, Bücher oder ähnliches. Lediglich die Grundausstattung.
„Was möchtest du denn gerne an Sachen mitnehmen?"
Die Halbasiatin schaut kurz an sich herunter und zuckt dann mit den Schultern. Seufzend runzle ich die Stirn.
„Du kannst nicht nur deine Kampfuniform mitnehmen. Urlaub heißt, dass wir vorerst außer Dienst und dort zum Spaß haben sind!"

„Spaß haben? Wozu? Unsere Aufgabe ist es, die Vampire zu beseitigen."

„Ja schon, aber manchmal braucht man auch eine Pause. Vor allem nach dem, was bei der letzten..."

Ich stocke. Aus irgendeinem Grund kann ich es nicht sagen und ein schwerer Stein scheint sich auf meine Brust gelegt zu haben, während meine Hände und Beine zu zittern beginnen. Mein Sichtfeld verschwimmt, als habe man einen Stein in einen Bach geworfen.
Spaß haben?
Habe ich das nach dieser Aktion überhaupt verdient? Wie kann Sumiko mir so gegenüberstehen? Sie muss Angst vor mir haben. Was denken die Anderen darüber? Sie müssen denken, dass ich sie angelogen habe, schließlich habe ich ihnen erzählt, dass ich weder ein richtiges Artefakt noch irgendeine Magie besitze. Jetzt, wo sie das gesehen haben...
Wollen sie überhaupt noch was mit mir zu tun und in ihrem Team haben? Wie soll ich Finn und Jonas später bloß gegenübertreten? Was, wenn die Keryno-Organisation mich jetzt als eine Verräterin sieht? Vielleicht ist der Urlaub auch bloß ein Vorwand, um mich irgendwo hinzulocken? Nein, wenn sie mich festnehmen wollen würden, hätten sie das sofort getan.
Ich hole tief Luft, ehe ich ein Lächeln aufsetze. Beruhige dich. Nicht an das negative denken, sonst wirst du wieder zur Bestie...
Darüber sollte ich mir später den Kopf zerbrechen.

Keryno - Die verborgenen VampireWo Geschichten leben. Entdecke jetzt