9. Vergangenheit

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Melody:

Das erste, was ich fühle, sind bohrende Kopfschmerzen und höllischer Durst. Gleichzeitig spüre ich, dass es mir nicht gut geht.
Das zweite was ich bemerke ist, dass ich nicht mehr auf dem harten, kalten Betonboden liege, sondern auf einer warmen, weichen Unterlage. Auch ist der Geruch in diesem Raum angenehm, sauber und gepflegt. Eine Nuance liegt in der Luft, die mich zusammenzucken lässt: der schwache Duft eines Männerdeos.
Sofort reiße ich die Augen auf, kneife sie aber sogleich stöhnend wieder zu und drehe mich auf die Seite, weg vom Fenster. Das helle Sonnenlicht ist zu viel für mich.
Nach kurzer Zeit versuche ich es wieder und öffne langsam meine Augen. Dieses Mal halte ich es länger aus und kann mich schnell einmal umsehen, bevor ich die Augen wieder zumache.
Neben dem Bett steht eine Kommode mit einer Lampe darauf, dahinter, mir direkt gegenüber, befindet sich eine weiße Tür.
Ich öffne die Augen erneut und setze mich mühsam auf, mit dem Rücken zum Fenster. Jetzt erst merke ich, wie heiß mir ist, ich streife kurzerhand den Mantel ab und lasse ihn neben das Bett zu meinen Schuhen auf den Boden fallen. Vorsichtig stelle ich mich auf die Füße und richte mich auf. Meine Beine sind beinahe zu schwach mich zu tragen, deswegen stütze ich mich an der Wand ab.
Langsam laufe ich zur Tür und drücke probehalber die Türklinke herunter. Ich erwarte nicht dass sie aufgeht, immerhin befinde ich mich in einem fremden Haus irgendwo in London, oder auch nicht. Bei diesem Gedanken läuft mir ein kalter Schauer über den Rücken und ich bekomme ein wenig Angst.
Doch zu meiner Überraschung lässt die Tür sich zu mir hin aufziehen und ich öffne sie ganz. Nun liegt die Sicht frei auf einen kleinen Flur mit einer weiteren weißen Tür mir gegenüber und noch einer rechts von mir. Nach links scheint es weiter zu gehen, doch ich trete erstmal langsam aus dem Zimmer auf den Flur. Alle anderen Türen sind geschlossen, aber ich verspüre kein Verlangen herauszufinden was dahinter liegt. Also wende ich mich nach links, wo eine Treppe mit braunen Teppichstufen und weißem Geländer mit schwarzem Oberteil nach unten führt. Durch ein Dachfenster strömt wieder Licht ins Haus und alles scheint hell und freundlich zu sein. Gerade betrete ich den obersten Absatz, als ich hinter mir plötzlich jemanden spüre. Erschrocken drehe ich mich herum und starre einen Mann an. Er trägt graue Jeans, ein graues, enges T-shirt und keine Socken. Seine schwarzen Haare stehen ihm wirr vom Kopf ab und der Schatten eines Bartes zeichnet seine Wangen und seine Oberlippe. Verschlafen reibt er sich mit einer Hand über die Stirn und öffnet dann seine dunklen Augen.
"Jim?", hauche ich und er lässt seine Hand sinken. Ausdruckslos schaut er mich an, kein Lächeln, keine Emotionen regen sein Gesicht. Er sieht müde aus, und irgendwie fertig.
"Drogen also", sagt er schließlich und ich höre, dass seine Stimme noch rau ist vom schlafen. Gleichzeitig höre ich auch eine seltsame Verbitterung, ja fast Enttäuschung, sowie eine eigenartige Nüchternheit.
"Wieso machst du sowas?", fragt er fassungslos und ich zucke zusammen. Er duzt mich und das habe ich noch nie einem Mann erlaubt.
"Das verstehst du nicht", weiche ich aus und schaue ihn nicht an.
"Doch, das verstehe ich sogar sehr gut. Ich war mal der selben Lage wie du, aber anders als du habe ich kapiert dass mir Drogen nicht helfen!", antwortet Jim heftig und ich weiche unwillkürlich zurück. Wut beginnt in mir zu brodeln und mein Gesicht verfinstert sich.
"Ich bezweifle dass du jemals in meiner Lage gesteckt hast, oder dass du auch nur im geringsten verstehst warum ich das getan habe", antworte ich und spüre, wie sich Tränen in meinen Augen bilden. Wütend blinzele ich sie weg, doch sie kommen immer wieder und laufen mir schließlich über die Wangen. Erst wische ich sie mit dem Ärmel weg, doch dann lasse ich sie fließen und schließe die Augen. Mein Atem geht schwer, lautlose Schluchzer schütteln meinen Körper und ich balle die Hände zu Fäusten. Da höre ich dass Jim auf mich zukommt und reiße die Augen wieder auf. Einen Meter vor mir stoppt er und mustert mich einen Moment lang, dann tritt er vorsichtig einen Schritt zurück.
"Dann erklär's mir."
Fassungslos starre ich ihn an.
"Machst du Witze?"
Doch sein Blick ist ernst und er verschränkt die Arme vor der Brust.
"Ich habe dich gestern Nacht da rausgeholt, ein bisschen Dankbarkeit wäre schon angebracht."
"Ich bin dir ja auch dankbar, sehr sogar, aber das..."
Meine Stimme verliert sich und ich schlucke. Er seufzt.
"Melody. Ich glaube ich weiß sowieso schon was dir widerfahren ist, ausserdem musst du irgendwann mit jemandem darüber sprechen."
Ich weiß dass er recht hat, aber ich sträube mich dagegen.
"Aber nicht mit dir", flüstere ich und meide seinen Blick trotzig.
"Und mit wem dann? Du hast keine anderen Freunde, Melody. Das hast du mir oft genug erzählt, und Katie zählt nicht, denn die ist in Amerika. Ich bin der einzige der einem Freund noch nahekommt. Bitte Mel."
Überrascht hebe ich den Kopf und schaue ihn an. 'Mel' hat mich bisher nur Katie genannt, Jim noch nie. Bis jetzt.
Sein Blick ist bittend und ich seufze leise.
"Na gut", wispere ich und schlucke schwer.
"Aber denke bitte nicht falsch von mir, okay?"
"Niemals", antwortet Jim ernst und öffnet die rechte Tür.
"Komm hier rein, das ist besser als auf dem Flur."
Er wartet bis ich langsam an ihm vorbei ins Zimmer gegangen bin, dann folgt er mir und lehnt die Tür nur an. Wir stehen nun in einem Arbeitszimmer mit einem Schreibtisch, Schränken an den Wänden und einem Bild an der Wand.
"Willst du dich setzen?", fragt er und deutet auf einen schwarzen Drehstuhl, doch ich schüttele den Kopf. Da setzt er sich hinein, stützt die Ellenbogen auf die Knie, faltet die Hände und lehnt seine rechte Wange dagegen, während er mich anschaut. Schweigend wartet er bis ich bereit bin um zu erzählen.
"Ich war sechzehn", beginne ich langsam und spiele mit dem Saum meiner Bluse.
"In der Schule war ich Klassenbeste, ich war gut drauf, fröhlich und nett zu allen. Ich hatte keine Probleme, außer dass meine Mutter immer zu wenig Geld übrig hatte, aber das war nicht schlimm. Wir haben es immer irgendwie geschafft."
Jim hört mir aufmerksam zu und ich hole tief Luft.
"Naja, zumindest bis meine Mutter nochmal geheiratet hat. Mein neuer Stiefvater war ein arrogantes, widerliches Arschloch, der keinen Hehl daraus gemacht hat, dass er auch durchaus Interesse an mir hätte. Doch auch das hat mich nicht groß gestört, ich habe weiterhin etwas mit meinen Freunden gemacht und ihn nicht weiter beachtet. Doch dann kam raus dass er Schulden hatte und dringend Geld brauchte. Ich weiß nicht wie er darauf gekommen ist, aber er fasste den Entschluss mich zu verkaufen."
Jim richtet sich mehr im Stuhl auf und schaut mich schockiert an.
"Und was ist mit deiner Mutter? Die hat doch bestimmt etwas dagegen gemacht, oder nicht?"
"Doch, natürlich. Aber er war viel stärker als sie und so hat er ihr den Arm gebrochen und wollte mich gerade holen, als ich aus dem Fenster gesprungen und abgehauen bin. Ich bin zur Kirche gerannt, um diese Uhrzeit war dort niemand und ich konnte mir sicher sein, dass er mir nicht dorthin folgen würde. In der Kirche war tatsächlich nur der Pfarrer anwesend, den ich auch sogleich um Hilfe bat. Er lud mich ins Hinterzimmer ein, um mir einen Tee zu machen, meinte er. Nichtsahnend folgte ich ihm, ich hätte ja nicht wissen können was folgte."
Ein Schluchzer unterbricht mich und ich muss mich zusammenreißen um nicht wieder zu weinen.
"Lass dir ruhig Zeit", sagt Jim sanft und ich nicke nur. Nach einer Weile kann ich weitersprechen.
"Als wir im Hinterzimmer waren hat er die Tür zugesperrt. Der Raum hatte nur ein kleines Fenster, und keinen Teekessel weit und breit. Ich wollte ihn gerade zur Rede stellen, als er mich von hinten packte und mit einem Tuch knebelte. Ich habe versucht mich zu wehren, doch er war zu stark. Er hat mich gefesselt u-und mich angefasst, dann hat er... e-er hat..."
Tränen laufen über mein Gesicht und ich schluchze in meinen Ärmel hinein. Meine Schultern beben und ich weine hemmungslos all den Schmerz und das Leid heraus, was sich die Jahre über angesammelt hat.
"Oh Melody", haucht Jim fassungslos und starrt mich an. Als ich mich halbwegs beruhigt habe erzähle ich langsam weiter.
"A-als er fertig war, band er mich los und ging einfach. Die Polizei hat mich später gefunden, allein und innerlich zerrissen. Es tat so weh, Jim, und ich fühlte mich beschmutzt und alleingelasssen. Doch es kam noch schlimmer."
Nun ballt Jim die Hände zu Fäusten und sein ganzer Körper spannt sich an.
"Nachdem ich aus dem Krankenhaus entlassen worden wurde, hatte ich furchtbare Angst vor Pfarrern. Was ja auch verständlich ist. Meinen Stiefvater hatte man verhaftet und wegen häuslicher Gewalt eingesperrt, wodurch ich und meine Mutter ihn los waren. Aber meine Mum hatte kein Geld um mir eine Therapie zu bezahlen, durch die alles anders gekommen wäre. In der Schule wurde ich schräg angeschaut und viele meiner ehemaligen Freunde wandten sich von mir ab und verspotteten mich. Viele glaubten ich lüge, andere sahen in mir dadurch nur noch ein Häufchen Dreck. Ich habe sie ignoriert, aber meine Noten waren nicht mehr ganz so gut und ich trug fast nur noch schwarze Sachen. Das war die Zeit, in der ich das erste Mal mit Drogen in Kontakt gekommen bin, aber nicht für lange. Kaum ein Jahr später verfolgte mich eine Gruppe von fünf Klassenkameraden in eine dunkle Sackgasse und stellten sich mir in den Weg. Es waren alles Männer und sie haben abartige Dinge zu mir gesagt. Erst haben sie mich nur geschubst, dann geschlagen und als ich am Boden lag haben sie nur noch getreten, mich bespuckt und halb tot geprügelt. Als sie von mir abließen war ich kaum noch bei Bewusstsein und bekam nichts mehr mit. Ich war damals dem Tod so nahe wie noch nie. Später habe ich erfahren, dass eine Nachbarin mich gefunden und den Krankenwagen gerufen hat. Sie hatte gesehen wie ich und die Männer in die Gasse gegangen waren, aber nur dass sie wieder herausgekommen waren. Nach einem Monat Krankenhaus zogen meine Mutter und ich um, damit ich nochmal neu anfangen konnte. Aber seitdem habe ich panische Angst vor Männern."
Ich schaue auf meine zitternden Hände und schlucke schwer.
"Ich hatte nie einen Freund, habe nie geliebt, habe niemals einen Mann an mich herangelassen und mich von den anderen aus meiner neuen Schule abgeschottet. Von denen wurde ich sofort als die 'Verrückte' abgestempelt, aber das war mir egal. Ich trug nur dunkle, weite Sachen und war meistens recht blass, weil ich zu wenig Schlaf hatte. Albträume verfolgten mich jede Nacht. Nur ein Mädchen mochte mich und das war Katie. Durch sie habe ich mich entspannt und meine Angst etwas abgebaut, wodurch ich heute besser klarkomme als früher. Früher konnte ich nicht Bus fahren, einen Job haben oder mit Männern reden. Ihr hast du es zu verdanken dass ich mit dir so sprechen kann."
Ich schaue Jim an und bemerke die unterdrückte Wut in ihm.
"Und wie bist du zu den Drogen gekommen?", fragt er vorsichtig und ich zucke zusammen.
"Meine Mutter starb bei einem Autounfall. Ich habe alle Kontakte zu Katie gekappt, die Wohnung verlassen und bin untergetaucht. Ich habe mich fast schon von Drogen ernährt, weil sonst die Erinnerungen zu stark waren. Doch Katie hat nicht locker gelassen, mich gefunden und zu sich geholt. Sie gehört zu den Kindern mit reichen Eltern, die jedes Jahr einen Teil ihres Geldes an Hilfsorganisationen spenden. Sie nahmen mich auf, päppelten mich bis ich wieder gesund war und zurückkommen konnte. Dank ihnen konnte ich meinen Schulabschluss mit Bravour nachholen und war von den Drogen befreit."
Jim nickt langsam und atmet tief durch.
"Wenn du... wenn du mir das gesagt hättest, dann hätte ich dir geholfen, von Anfang an", sagt er leise und schaut mich an, doch ich schüttele den Kopf.
"Mir kann man nicht helfen. Ich hätte dich weggestoßen, so wie ich alle anderen weggestoßen habe."
Für kurze Zeit scheint er zu überlegen, dann steht er plötzlich auf und schaut mich an.
"Hast du schonmal was von Schocktherapie gehört?", fragt er und kommt einen Schritt auf mich zu. Verwirrt hebe ich eine Augenbraue.
"Äh, nein, was ist das?"
"Ach, nichts. Man bekämpft die Angst nur dadurch, dass man das, wovor man Angst hat, verstärkt hervorruft."
Er kommt noch näher auf mich zu und ich runzele die Stirn.
"Jim?", frage ich misstrauisch, da kommt er noch näher. Er steht gerade an der Grenze an der ich Männer noch an mich heranlasse.
"Was wird das?", frage ich nun mit deutlicher Panik in der Stimme, denn Jim ist noch näher an mich herangekommen. Seine dunklen Augen beobachten mich ganz genau, aber er geht nicht zurück.
"Jim, lass das, bitte", flehe ich mit zitternder Stimme und weiche vor ihm zurück. Doch hinter mir ist die Wand und Jim folgt mir direkt hinterher.
"Jim, bitte, nicht!"
Da kommt er plötzlich auf mich zu, ich kneife die Augen zusammen, hebe schützend die Arme und wimmere auf. Doch anstatt das zu tun was ich befürchtet habe, legt er seine Arme sanft um mich und streicht mir beruhigend über den Rücken.
"Alles ist gut. Tut mir leid, dass ich das gemacht habe", sagt er leise und ich weine schluchzend an seiner Brust, bis ich die Arme langsam sinken lasse und mein Gesicht an seinem T-shirt vergrabe. Behutsam zieht er mich an sich und wartet, bis ich aufgehört habe zu weinen.

Moriarty In Love Where stories live. Discover now