62. Die letzte Ehre und Training

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Zwei Tage später hat Jim die Schein-Beerdigung von Henry organisiert und wir fahren gemeinsam mit Sebastian zu dem Friedhof, auf dem seine Eltern ebenfalls begraben wurden. Wir alle tragen relativ dunkle Sachen und ich habe einen schwarzen Mantel angezogen. Ich habe die Akte von Henry dabei und auch schon eine Idee wie ich mich von ihm verabschieden will. Es ist ein schöner Friedhof, die Gräber sind nicht so schnurgerade aufgereiht wie bei anderen Friedhöfen, sondern zwischen den einzelnen Grabsteinen liegen unterschiedliche Abstände und Bäume stehen herum.
Jim führt mich über den Friedhof zu dem Grab von Henrys Eltern, und daneben steht ein symbolischer Sarg, der von zwei Helfern in ein frisch gegrabenes Loch in der Erde gelassen werden soll. Es ist kein Priester anwesend, keine anderen Personen außer den Helfern, Jim, mir und ein paar Meter hinter uns Seb. Ich nehme das schönste und größte Foto von Henry aus der Akte heraus und werfe die Akte dann auf den Sarg, als dieser bereits in dem Loch liegt. Die beiden Männer beeilen sich sich die Erde wieder hineinzuschaufeln und verschwinden dann ohne ein Wort zu sagen. Aber das ist mir nur recht so.
Stillschweigend betrachte ich den dunkelgrauen Grabstein mit den schnörkeligen Buchstaben, die Henrys Namen bilden. Langsam trete ich einen Schritt vor, lasse mich auf die Knie sinken und schaue auf das Foto. Henry grinst und sieht vollkommen unbeschwert aus, nicht so traurig und einsam wie zuletzt.
"Ich weiß dass wir nie so besonders gute Freunde waren, aber wir waren Tanzpartner und deshalb weiß ich ein paar Dinge über dich", beginne ich leise zu sprechen und schaue auf den Grabstein.
"Du bist kein schlechter Mensch gewesen, und ich verstehe warum du das getan hast, was du getan hast. Ich weiß jetzt wer du warst, aber leider zu spät. Du hattest Angst und warst allein. Ich wünschte ich hätte dir helfen können, doch stattdessen... habe ich mich von dir abgewandt. Und dennoch hast du mir geholfen."
Ich schaue wieder auf das Foto und lehne es an den Grabstein, dann hole ich etwas aus meiner Manteltasche.
"Danke."
Nachdenklich betrachte ich die Streichhölzer in meiner Hand und hole eins heraus. Nach einigen Versuchen kann ich es entzünden und halte die Flamme an den Rand des Fotos. Es dauert nicht lange, dann fängt das Papier Feuer und schwarze Flecken breiten sich aus, gefolgt von rot-orange tanzenden Flammen. Schweigend schaue ich zu wie das Feuer das Bild von Henry verschlingt und der feine Rauch in die Luft steigt, bis kein Fitzelchen mehr übrig ist. Lediglich ein wenig Ruß auf dem Grabstein verrät dass das Foto gerade noch da war. Kurz schließe ich die Augen und verabschiede mich im Innern von Henry, dann öffne ich sie wieder und stehe auf. Die frische, feuchte Erde hat meine Hose ein wenig schmutzig gemacht, doch das ignoriere ich.
Als ich fertig bin drehe ich mich zu Jim um, der hinter mir steht und mich jetzt mitfühlend ansieht. Ich gehe auf ihn zu und er nimmt meine Hand, dann gehen wir mit Sebastian, der an einem Baum etwas weiter weg gewartet hat, wieder vom Friedhof runter.
"Und fühlst du dich jetzt besser?", erkundigt Jim sich bei mir und ich nicke.
"Ja."
Mehr sage ich nicht, aber mehr muss ich auch nicht sagen, Jim versteht mich auch so.

~~~

Den Abend verbringen wir in einem Restaurant und Jim führt mich aus, danach fahren wir zu Jim nach Hause. Im Fernsehen läuft eine Folge Doctor Who und Jim erklärt sich dazu bereit sie mit mir zu schauen.
"Langweilst du dich nicht bei sowas? Immerhin weißt du doch am Anfang schon wer der Täter oder was das Geheimnis ist", erkundige ich mich und Jim schüttelt den Kopf.
"Diese Fernsehsendungen haben mir bisher manchmal sogar geholfen", meint er.
"Inwiefern?"
"Immer wenn du dich an mich gekuschelt hast während wir einen Film geschaut haben, habe ich neue Dinge entdeckt die Pärchen in einer Beziehung machen. Wie das mit dem Haarewaschen."
Erstaunt schaue ich ihn an.
"Wirklich?"
"Ja."
Er grinst, dann schauen wir in Ruhe die Folge zu Ende.
"Ach ja, ich wollte dir ja beibringen wie du dich selbst verteidigen kannst, allerdings habe ich deine Antwort nicht wirklich als glaubhaft empfunden", beginnt er ein neues Thema und kratzt sich am Hinterkopf.
"Ich finde das ist eine gute Idee, aber irgendwie auch nicht. Muss ich wirklich lernen mit einer Waffe umzugehen?", erwidere ich.
"Wenn du nicht damit irgendwann einmal getötet werden willst, ja", antwortet er lachend und ich verziehe missmutig das Gesicht.
"Na gut. Aber du musst mir etwas versprechen."
Fragend legt er den Kopf schief und wartet bis ich weiterspreche.
"Versprich mir dass du mir nur helfen wirst, mich selbst zu verteidigen, und nicht mich in einen Auftragskiller zu verwandeln. Denn das will ich nicht."
"Das verspreche ich. Aber du verstehst doch sicher dass du ständig trainieren musst, oder?"
Ich nicke.
"Das war mir schon klar."
Eine Weile lang bleiben wir noch auf dem Sofa sitzen und ich genieße die Nähe zu Jim. Der Gedanke von ihm 'unterrichtet' zu werden ist aufregend, aber ich will nicht schießen lernen müssen.
"Wo werden wir das denn machen?", frage ich mit geschlossenen Augen, den Kopf an Jims Schulter gelehnt.
"Dieses Haus hat noch einen Keller", antwortet er lachend und ich hebe den Kopf.
"Ist das dein Ernst?"
Jim nickt und kichert, dann gibt er mir einen Kuss auf die Wange.
"Du glaubst doch nicht dass ich für sowas in ein Fitnesscenter gehen würde, oder?"
"Nein."
Nun muss ich auch grinsen bei der Vorstellung, wie Jim mitten im Fitnesscenter beginnt mit Pistolen auf Ziele zu schießen.
Wenig später gehen wir ins Bett, doch diese Nacht möchte ich alleine schlafen. Jim nimmt keinen Anstoß daran, er akzeptiert es einfach und wünscht mir liebevoll eine gute Nacht bevor er in sein Zimmer geht. Für solche kleinen Dinge liebe ich ihn.

***

Die nächsten Wochen beginne ich wieder zu arbeiten und gehe, zu Jims Missfallen, in meine eigene Wohnung zurück. Allerdings verbringe ich da nicht so viel Zeit wie gedacht, denn jeden Nachmittag nach der Arbeit treffen Jim und ich uns bei ihm im Keller und er trainiert mit mir. Der Keller ist ein schalldichter, großer Raum mit einigen Matten, Schränken mit Schutzsachen und auch Zielscheiben für Schussübungen. Insgesamt ist der Raum so groß wie der Grundriss des Hauses, wenn nicht sogar noch größer, und man kommt durch eine geheime Tür unter der Treppe hinein.
Am Anfang ist das Training schwer, denn meine Kondition und Kraft sind so gut wie weg, doch Jim lässt nicht locker. Manchmal machen wir Kraftübungen, manchmal gehen wir joggen und manchmal zeigt er mir Falltechniken. Mit dem eigentlichen Kämpfen geht es erst los als gelernt habe zu fallen ohne mich zu verletzen.
Jim ist ein sehr guter Lehrer, aber jeden Abend falle ich todmüde und erschöpft ins Bett und am nächsten Tag habe ich anfangs heftigen Muskelkater. Die Wochenenden gibt Jim mir frei, aber wir treffen uns trotzdem. Mittlerweile wissen meine Arbeitskollegen und meine Nachbarn dass ich und Jim wieder zusammen sind, und auch Katie. Sie war vollkommen aufgelöst als ich sie anrief um sie zu beruhigen und wollte wissen wo ich gewesen bin. Ich habe ihr erzählt dass ich mich mit Jim versöhnt habe und wir spontan weggefahren sind, denn ich will sie nicht unnötig beunruhigen, immerhin ist sie schwanger. Die ganze Aufregung war wahrscheinlich schon nicht gut für sie.
Das Leben mit Jim als Psychopath ist anders als vorher, obwohl ich es nicht oft mitbekomme wenn Jim anders drauf ist. Allerdings sickert es langsam durch, er sagt etwas oder schaut mich plötzlich seltsam an, doch wirklich passieren tut nichts. Zum Glück.
Ich bekomme jetzt auch mehr von Jims Arbeit mit, aber Jim erzählt mir nicht wenn er Morde in Auftrag gegeben hat, denn das finde ich trotzdem nicht gut. Aber Jim wird sich nicht ändern.
Entgegen Jims Wunsch versuche ich das Training mit Schusswaffen so lange wie möglich hinauszuzögern, denn ich will das eigentlich nicht. Doch irgendwann bringt Jim mich dazu es wenigstens zu versuchen und wir müssen feststellen dass ich ein gewisses Talent fürs Schießen habe. Meine Begeisterung hält sich in Grenzen.
Auch wenn Jim sich bemüht objektiv und sachlich beim Training zu bleiben, passiert es manchmal dass ein eigentlicher Kampf ein wenig 'ausartet' und wir am Ende lachend auf dem Boden liegen oder keuchend nach Luft schnappen weil ein Kuss zu lange gedauert hat. Außerdem habe ich, besonders am Anfang, keine Chance gegen Jim anzukommen und er genießt das irgendwie. Er hält mich am Boden fest und lässt mich nicht mehr los, oder wenn er besonders fies sein will, hebt mich an und lässt mich nicht mehr runter.
Alles in allem 'normalisiert' sich mein Leben wieder, zumindest irgendwie, und die Erinnerungen an die Folter verblassen. Meine Verletzungen sind verheilt und auch an meinen Armen sind nur teilweise noch einige wenige, feine, silbrige Narben zu erkennen, ganz wie Jim es vermutet hat. Man hört nichts böses, keiner versucht mich oder Jim umzubringen, ich habe keine Probleme mehr und lebe mit Jim in einer Beziehung. Doch irgendwann muss ich mich mit dem Psychopathen befassen, das ist zumindest Jims Einschätzung.
"Und wenn es soweit ist musst du wissen was du sagen musst, sonst könnte es sein dass ich dich umbringe oder so", sagt er ernst zu mir während er mir eine kleine Pause während eines Trainings gönnt.
"Also willst du mir jetzt auch noch beibringen wie ich am besten mit dir rede?", frage ich außer Atem und Jim zuckt mit den Schultern.
"Nein Jim, lass das. Ich werde schon mit dir fertig, keine Sorge. Es ist besser wenn ich das selbst mache, und du mir nicht die Worte vorgibst", verhindere ich eine Antwort von ihm und trinke einen Schluck aus meiner Wasserflasche.
"Okay, dann machen wir es so."
Er grinst während ich die Flasche wegstelle.
"Bereit?"
Und bevor ich antworten kann, stürzt er sich auf mich und beginnt mich gnadenlos zu kitzeln.

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Moriarty In Love Where stories live. Discover now