60. Eine Akte

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Wir unterhalten uns noch eine ganze Weile lang bis es irgendwann dunkel wird, da springt Jim plötzlich auf und eilt nach oben.
"Ich schaue nur kurz was nach!", ruft er zu uns herunter und man hört eine Tür, die sich schließt.
"Weißt du was er macht?", fragt Sebastian mich, doch ich zucke nur mit den Schultern.
"Du bist hier der Jim-Experte, nicht ich."
Da grinst Sebastian und kratzt sich mit einer Hand am Kopf.
"Ja, das ist auch wieder wahr. Den Alltag mit ihm zu verbringen ist manchmal echt anstrengend, um nicht zu sagen ein Überlebenskampf. Nie weiß man wie er reagieren wird, was er sagt oder was er machen wird. Allerdings kommt man mit der Zeit dahinter, keine Sorge."
Er zwinkert mir zu und ich lächle, da kommt Jim wieder die Treppe herunter. In der Hand hält er einen braunen Umschlag, den er mir gibt.
"Seb hat diese Akte über ihn erstellt nachdem wir ihn auf der Eisfläche getroffen haben. Hier steht alles drin was wir wissen, abgesehen von seinem Tod", erklärt er und ich öffne den Umschlag. Darin befindet sich tatsächlich eine hellbraune Akte, und ich schlage die erste Seite auf. Ein Foto von Henry kommt mir entgegen und ich muss schlucken. Auf dem Bild sprühen seine Augen fast schon vor Leben und seine blonden Haare sind wie immer durcheinander.
Doch jetzt nicht mehr.
"Ich möchte mir das hier anschauen", teile ich den beiden Männern mit, die mich erwartungsvoll anschauen und Jim nickt.
"Kein Problem, Seb und ich müssen sowieso noch etwas besprechen."
Sebastian steht auf und die Beiden verlassen den Raum, während ich auf dem Sofa sitzenbleibe. Kaum sind die Schritte und Stimmen von Jim und Seb nicht mehr zu hören, schaue ich mir die Akte genauer an.
Da stehen Daten wie Henrys Geburtstag, sein Geburtsort und wer seine Eltern waren, sowie Schule und Freizeitaktivitäten. Langsam lese ich mir alles durch und arbeite mich durch seinen Lebenslauf, dann wende ich mich den anderen Seiten zu. Da gibt es einige Observationsfotos auf denen Henry gerade sein Haus verlässt, durch die Stadt geht oder mit Leuten redet. Die Fotos sind nur wenige Monate alt und auf allen wirkt er verbittert, traurig und einsam, was ein riesiger Kontrast zu meinem Bild von dem früheren Henry ist. Und auf der nächsten Seite sehe ich den Grund für diese Veränderung.
Fotos seiner Eltern, auf denen sie in ihrem eigenen Blut liegen, die Augen aufgerissen und mit mehreren Schusswunden im Körper. Bei diesem Anblick schlage ich mir eine Hand vor den Mund und muss ein lautes Schluchzen unterdrücken.
Ich kannte Henrys Eltern nicht gut, aber sie waren auf jedem Ball ihres Sohnes und haben uns manchmal nach dem Tanzen abgeholt. Mit leicht zitternden Händen blättere ich weiter und finde einen Bericht der Polizei, sowie einen kurzen handgeschriebenen Brief:

Wir haben dich gewarnt und jetzt musst du bezahlen. Mit uns spielt man keine Spielchen.

Henrys Eltern wurden bedroht, oder vielmehr wurde er mit dem Leben seiner Eltern erpresst. Der arme Henry.
Weil man mir keine Wahl ließ. Deswegen wurde er also zum Auftragskiller, er hatte sonst nichts und wahrscheinlich wäre er sonst gestorben.
Definitiv wäre er sonst gestorben, bei diesen Leuten.
Je weiter ich lese, desto besser verstehe ich Henry, seine Entscheidungen und Handlungen. Allerdings verschwindet der junge Mann mit dem ich damals getanzt habe immer mehr, bis fast nichts mehr von ihm übrig bleibt. Er hat sich so sehr verändert.
Aufträge, die er ausgeführt hat, Observationen, Tote und Berichte über gescheitere Jobs, von denen es nur sehr wenige gab, finde ich in der Akte.
Als er damals auf dieser Feier war... er muss gewusst haben dass ich keine Ahnung hatte wer die ganzen Leute waren. Er hat gelogen, genauso wie Jim.
Seufzend schließe ich die Akte und drücke sie schützend an meine Brust. Henry hat mir geholfen, obwohl ich nicht gerade nett zu ihn war und er versucht hat mich umzubringen. Er wollte es nicht, er hat erst versucht mich von Jim abzubringen anstatt mich sofort zu töten.
Ich habe früher mit Henry getanzt und er war mein Freund. Und jetzt hat er niemanden der um ihn trauert. Niemanden außer mich.
Die Erinnerungen an Henrys Tod laufen vor meinem inneren Auge ab und einige Tränen laufen über meine Wangen. Es weiß niemand dass er tot ist, es gibt niemanden der ihn vermissen wird.
"Honey?"
Jims sanfte Stimme reißt mich aus meinen Gedanken und ich registriere dass ich begonnen habe leise zu schluchzen. Mit dem Handrücken wische ich mir die Tränen aus dem Gesicht, da hockt Jim sich vor mich hin und schaut mich an.
"Habt ihr seine... seine Leiche aus dem Haus geholt?", frage ich, doch Jim schüttelt den Kopf.
"Es ging uns nur darum dich zu retten, außerdem haben wir keine Leiche gefunden. Wahrscheinlich haben sie sie bereits entsorgt."
"Dann wird es kein Begräbnis geben. Nichts was an ihn erinnert", flüstere ich und Jim nimmt meine Hand in seine.
"Ich kann so etwas arrangieren, wenn du das wirklich willst."
"Du willst eine Beerdigung fälschen?", hake ich nach und er zuckt mit den Schultern.
"Das ist kein fälschen, es passiert ab und zu mal dass keine Leiche vorhanden, die Person aber wirklich gestorben ist."
Ich denke einen Moment darüber nach und schaue ihn dann wieder an.
"Und das würdest du für mich machen?"
Er schaut mich vorwurfsvoll an.
"Honey, du weißt das ich das kann, und du weißt dass ich schon getötet habe wegen dir. Ich würde alles für dich tun."
Sanft küsst er mich auf den Mund und schaut mir dann tief in die Augen.
"Alles."
Ein kleines Lächeln huscht über mein Gesicht und er richtet sich wieder auf.
"Seb ist der Meinung ich, oder wir, sollten dir Selbstverteidigung beibringen, damit du nicht mehr so hilflos bist wenn Leute dich angreifen. Dazu gehört allerdings auch Schusstraining", wechselt Jim das Thema und kratzt sich am Kopf. Ich stehe auf, lege die Akte von Henry auf den Tisch im Wohnzimmer und lasse kurz eine Hand darauf ruhen. Eine Akte, mehr ist von ihm nicht übrig geblieben.
"Okay", sage ich leise und gehe dann in die Küche. Seb, der im Türrahmen steht, beobachtet mich überrascht als ich an ihm vorbeigehe und ich höre wie Jim mir hinterherkommt.
"Ich muss jetzt gehen", teilt Seb uns beiden mit und ich schaue zu ihm herüber.
"Wir sehen uns."
Jim nickt seinem Freund nur zu und Seb verschwindet aus meiner Sicht, dann höre ich die Haustür.
"Willst du etwas essen?", erkundigt Jim sich bei mir, doch ich schüttele den Kopf.
"Ich habe keinen Appetit mehr."
"Na gut."
Er hält mir seine rechte Hand hin und ich ergreife sie zögernd, dann zieht er mich mit sich ins Bad, um nochmal nach meinen Wunden zu schauen. Alles verheilt sehr gut, und allmählich verblassen auch die Erinnerungen an die Schmerzen.
Wenig später liegen wir oben in Jims Bett, doch anders als sonst liege ich mit dem Rücken zu ihm und wir haben keinen Körperkontakt. Einen Moment lang sagt Jim nichts, doch dann berührt er mich an der Schulter.
"Was ist los Melody?"
Seine Stimme klingt sanft, und doch eindringlich.
"Ist es wegen Henrys Tod?"
Aber ich kann nichtmal genau sagen weshalb ich so traurig bin.
"Ich weiß nicht", antworte ich nach kurzer Zeit leise und drehe mich zu Jim herum. Seine im dämmrigen Licht schwarz wirkenden Augen mustern mich besorgt, er greift behutsam nach meiner Hand und verschränkt unsere Finger ein wenig miteinander.
"Es ist alles momentan ein bisschen viel", murmele ich und seufze leise.
"Das verstehe ich. Bald ist das vorbei, du wirst schon sehen", meint Jim liebevoll, löst unsere Hände wieder und streicht mir mit der Hand über die Wange.
"Ich bin bei dir."
Er lächelt leicht und ich rücke näher an ihn heran, bis ich seinen angenehmen Geruch riechen kann. Seine Wärme dringt durch den Stoff unserer Kleidung zu mir und ich schmiege mich enger an ihn.
"Weißt du, Henry hat mich belogen um mich zu schützen. Mir ist aufgefallen dass du eigentlich nur gelogen hast, weil du egoistisch bist", sage ich leise, aber ernst und Jim stutzt, dann kichert er fast schon.
"Du hast recht, angelogen habe ich dich nicht um dich zu schützen. Denn das hätte nur geklappt wenn ich mich dir gar nicht erst genähert hätte. Ich habe dich angelogen damit du bei mir bleibst und ich deine Anwesenheit genießen kann. Ich brauche dich Mel. Du bist wie meine ganz persönliche Droge, du beruhigst mich und bei dir fühle ich mich wohl."
Da muss ich auch kichern, aber nur kurz.
"Genau diese Wirkung hast du auf mich."
Als Antwort legt Jim einen Arm um mich und küsst mich auf die Stirn, dann sucht er nach meinen Lippen. Der Kuss ist sanft, aber dauert nicht sehr lange, auch wenn ich es gewollt hätte. Denn ich muss gähnen und Jim legt eine Decke über mich und sich selbst.
"Du solltest dringend schlafen, noch bist du nicht vollkommen gesund", meint er und zieht mich wieder enger an sich. Müde lehne ich meine Stirn gegen seine Brust und atme seinen Geruch ein, fühle seine Wärme und höre seinen Atem. Dann schlafe ich ein.

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Moriarty In Love Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt