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Vorsichtig öffnete ich die Tür meines „Hauses“. Ich hatte einen Schlüssel, was für diesen Schuppen hier echt erstaunlich war, aber ich sollte nicht so undankbar sein, sondern froh sein,  dass ich überhaupt was hatte.

Nun ja.

Alles was ich hatte war dieser Schuppen.

Keine Freunde, Familie, Liebe oder Geld. Nichts.

Nur diesen Schuppen.

Müde ließ ich mich auf die Matratze fallen. Dabei fiel ich praktisch auf den Boden,  nur dass dazwischen ein sehr dünner Stoff war.

Ich denke diese Matratze wurde von Motten oder ähnlichen aufgefressen, was weiß ich. Fakt ist: mit jedem Tag den ich auf ihr schlief wurde sie dünner.

Ich zog mir mein Shirt aus und streifte mir ein weißes über. Dieses weiße Shirt hatte ich einmal in einem Container gefunden. Doch obwohl ich in so einem üppigen Schuppen  lebte, legte ich großen Wert auf Sauberkeit.

Obwohl, nicht direkt Sauberkeit, eher Hygiene.

Ich wusch jedes Shirt, dass ich anzog, jede Spanndecke die ich überzog und jeden Socken den ich anzog.

Doch in diesem Moment, in dem Moment in dem ich auf meiner Matratze saß, machte ich mir um ganz andere Dinge Gedanken.

Ich hatte immer noch das küssende Paar im Kopf.

Ich starrte geradeaus und dachte daran wie es wäre wenn ich in so einer Situation wäre. Wie es wäre jemanden zu haben, der dich liebt. Wie es wäre mit dem du Mitternachts draußen sein kannst und nichts anders tun musst als ihn zu küssen. Eine Person zu haben mit der du deinen Kummer teilen kannst.

Doch ich hatte diese Person nicht.

Doch anscheinend jeder andere.

Denn ich starrte auf das Foto das auf meiner Wand hing. Meine Großmutter und mein Großvater. Lachend. Küssend. Nebeneinander.

Ich erinnerte mich noch genau an den Tag an dem ich es gefunden hab. An der Beerdigung meiner Mutter.

Es schneite. Ich stand mit meiner neuen Mutter Schneeflocken einatmend am Friedhof, denn es schneite. Meine Mutter wurde im Familiengrab begraben, dort wo auch meine Großeltern waren. Dort stand auch dieses Bild. Als mich niemand ansah, hatte ich es genommen und in meine Tasche gesteckt.

Auch wenn es heute weh tat dieses Bild anzuschauen, würde ich es um keinen Preis hergeben. Es war das zweitwichtigste in meinem Leben.  Nach der Kette. Die mir eine Krankenschwester im Namen meiner Mutter gegeben hatte.  Genau diese Kette knetete ich die ganze Zeit in meinen Fingern während ich so nachdachte.

Sie war wunderschön. Diese Kette war aus Silber und die Form eines Flügels. Ich liebte diese Kette. Ich weiß, ich könnte sie verkaufen und mit dem Geld was Ordentliches zu essen kaufen. Aber diese  Kette war mir wichtiger als alles andere.

Auch wenn diese Person nicht mehr lebte, es war der Einzige Beweis der Liebe. Die nur existierte als ich noch nicht geboren war. Denn eine Person starb wegen mir. Meine Mutter starb wegen mir. Wäre ich nur nicht auf die Welt gekommen.

Meine Mama würde noch leben wenn ich nicht hier wäre. Ich hätte kein dummes Leben, das ich leben musste. Ich war hier. Meine Mutter war weg.

Doch ich war nur äußerlich „hier“. Innerlich war ich bei meiner Mutter im Himmel. Mein Hirn wollte nicht begreifen, dass ich überlebt hatte. Doch einen zweiten Versuch zu machen wäre zu riskant. Die Schmerzen die ich nach dem Springen erleiden musste würde ich nicht nochmal erleben.

So.

Das war mein sogenanntes „Leben“. Die Sache, die ich am meisten hasste. Ich hasste es jeden Tag daran zu denken wie es wäre, wenn ich nicht hier wäre.

Doch nun war es so weit. Niemand würde es bemerken.

Ich würde jetzt springen. Vorsichtig öffnete ich das Fenster und kletterte hinaus aufs Dach. Ich schloss die Augen und atmete tief durch.

Jetzt oder nie.

Mit diesem Gedanken stürzte ich mich in die Dunkelheit. Ein paar Sekunden fühlte ich mich frei. So frei wie noch nie.

Ich war in meinem Leben tief gefallen. So tief, dass der Aufprall wehtat.

Genau so war es jetzt. Ich krachte auf den Boden mit der Hoffnung, nichts mehr zu spüren oder zu fühlen. Doch so war es nicht.

Mein Kopf blutete und mein linker Fuß berührte hinter meinem Rücken meine rechte Hand.

Doch dies war nicht der größte Schmerz. Der Herzschmerz war größer. Zu wissen, alles weiter durchstehen zu müssen. Wieder in den Schuppen zu gehen. Weiterzuleben. Alles was ich wollte war, dass es aufhörte. Alles.

Doch so war es nicht. Mit Mühe versuchte ich meine Hand zu meinen Kopf zu bewegen und das Blut zu stoppen. Auch meinen Fuß versuchte ich wieder in seine richtige Position zu bringen. Er schmerzte aber so höllisch das dies unmöglich war.

Eine klitzekleine Träne fand den Weg über meine Wange. Darüber war ich ernsthaft erstaunt. Ich weinte nie. Nicht in der Nacht, nirgends. Ich behielt mein Poker Face. Doch auch wenn ich versuchte zu weinen, es klappte nicht. Keine einzige Träne kam.

Nie.

Ich schüttelte diesen Gedanken wieder schnell ab.

Aber es stimmte. Ich weinte nie. Nie. Bis auf dieses eine Mal.

Meine Hände umfassten immer noch die Kette. Es war nicht die einzige Kette. Auf meinem Hals befand sich noch eine Zweite. Doch diese hatte ich aus meinen Haaren geflochten. Ich hatte mir eine Strähne abgeschnitten und angefangen sie zu flechten.

Nun war das meine zweite Kette.

Persönlich waren beide.

Doch ich würde die geflochtene ohne mit der Wimper zu zucken hergeben.

Hingegen würde ich die meiner Mutter um gar keinen Preis hergeben. Um nichts.

Ich würde sogar mit meinem Leben bezahlen.

An Angel Will DieWo Geschichten leben. Entdecke jetzt