Kapitel 46

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Zeit ist relativ. Das hat schon Albert Einstein erkannt.

Man wartet auf ein wichtiges Testergebnis und fünf Minuten kommen einem vor, wie fünf Stunden. Andererseits, wenn man Zeit mit einem geliebten Menschen verbringt, dann verfliegen fünf Minuten wie fünf Sekunden.

Ich saß mit den anderen im Gang vor dem Direktorenbüro. Und wir warteten. Mit jeder Minute entfernte sich Christal mehrere Meter von uns und wir konnten nichts dagegen tun. Jasper hatte Recht. Das war wirklich das Schlimmste.

Denn es ist nicht zu wenig Zeit, die wir haben, sondern es ist zu viel Zeit, die wir nicht nutzen, wie Seneca zu sagen pflegte.

Wir saßen lange im Gang. Durch die Fenster sah man schon wieder die Sonne über den Horizont aufsteigen. Plötzlich ging die Tür auf und Mr. Miller stand in der Tür. Jason blickte auf und erhob sich sofort. Doch er fragte nichts.

"Kommt rein. Ihr alle.", sagte Callum Miller und drehte sich wieder um. Jason war der erste, der ihm folgte. Danach stand Jasper auf, um seinem besten Freund beizustehen, bei was auch immer jetzt kommen mag. Schließlich erhoben wir uns alle und traten in das Büro, in dem schon Mrs. Fray, Coach Crown, Ms. Hayden und das Direktorenpaar saßen.

"Was ist los, Cal?", fragte Jason und verschränkte die Arme vor der Brust.

"Schließe die Tür", wies er Jessy an, die als letzte herein gekommen war. Dann wandte er sich wieder seinem Neffen zu.

"Es gibt viel zu besprechen. Setzt euch.", sagte er und sah uns bei dem letzten Teil des Satzes an. Also taten wir das. Da vor dem Tisch nur zwei Stühle standen, ließen wir und auf dem Sofa in der Ecke nieder, auf dem ich schon mit meiner Mutter gesessen hatte und auf dem jetzt die Lehrer saßen. Ich quetschte mich neben Amanda und zu meiner Verblüffung setzte sich Jason an meine andere Seite. Ich sah ihn fragend an, doch er ignorierte meinen Blick.

"Hört zu. Ich weiß nicht wie ich es euch schön reden soll.", begann Mr. Miller und mein Herz rutschte mir in die Hose. "Wir haben und mit sämtlichen Geheimdiensten beraten. Keiner kann Agenten zu uns abkommandierten, die Christal holen könnten. Alle haben zu wenig Information über den Zirkel und alle Hände voll mit Terroristen zu tun. Wir werden keine Hilfe bekommen. Schlimmer noch, sie sind der Meinung, dass sie noch dort bleiben sollte, da sie wichtige Informationen erhalten könnte."

"Sie könnte aber auch schon tot sein.", zischte ich unwillkürlich und ballte meine Hände zu Fäusten. Augenblicklich griff Jason nach meinem Handgelenk. Ahh, deshalb saß er also neben mir. Um den Hulk zurück zu halten, sollte er losstürmen und alles zertrümmern.

"Warum gehen Sie nicht?", fragte Jessy und sprach damit alle Lehrer an. Hoffnungsvoll sah ich mich in der Runde um, doch keiner verzog auch nur annähernd eine Mine. Mr. Miller schüttelte sogar den Kopf

"Wir können nicht.", antwortete er. "Wir haben hier zu viel Verantwortung und sind außerdem zu wenige, um auf eine Mission aufzubrechen und gleichzeitig die Schüler zu unterrichten."

"Also lassen wir sie dort? Ganz allein und verängstigt?", fragte zu meiner Verblüffung Alex und ein indirekter Vorwurf schwang in seinen Worten mit.

"Uns sind die Hände gebunden, Alexander.", erwiderte er und ich erkannte, dass es ihm leid tat. Unserem knallharten Direktor schmerzte es in der Seele Chrissy in den Händen dieser Kriminellen zu wissen.

"Und was jetzt?", zischte Jessy. "Gehen wir allen ernstes wieder zum Alltag über?"

"Wir werden versuchen sie so schnell wie nur irgend möglich da raus zu holen.", beschwichtigte uns Mr. Miller.

"Das ist nicht schnell genug.", rutschte es mir schnippisch heraus und augenblicklich spürte ich wieder Jasons Finger um meinen Arm. Ich biss mir auf die Lippe. Mr. Miller starrte mich mit zusammen gekniffenen Augen an und ich spürte, dass er kurz davor war, mich zurecht zu weisen.

"Es ist meine Schuld.", flüsterte da Amanda, die zwischen mir und Sam saß und die Knie angezogen hatte. "Ich hätte stärker sein sollen. Es ist meine Schuld."

Eigentlich bin ich eins der Mädchen, die ziemlich aufbrausend und temperamentvoll sind, die nicht nachdenken und sich kopfüber ins Geschehen stürzen. Und deshalb müsste ich mich jetzt zu meiner Freundin drehen und ihr beteuern, dass sie falsch lag, dass es nicht ihre Schuld sei, dass wir alle keine Chance gehabt hätten. Doch das tat ich nicht. Stattdessen tat ich das, was ich neben verschwinden am besten konnte: beobachten.

Und während Jessy meinen Job übernahm und Amanda gut zu redete, blickte ich zu unserem Schulleiter. Dieser sah Amanda an und man erkannte keine Spur von Mitgefühl oder irgendetwas anderem, was einem zeigte, dass er ebenfalls wie wir anderen darüber dachten, sondern eine eiserne Härte und ein Fünkchen Mitleid. Mitleid für das Mädchen was mit in Tränen stehenden Augen und von Schuldgefühlen belastet auf der Couch kauerte und sich schlimme Vorwürfe machte. 

Callum Miller widersprach Amanda nicht. Weder beruhigte er sie, noch widerlegte er ihre Aussage. Er blieb einfach stumm sitzen und sah sie beinahe emotionslos an. Und da verstand ich es. Er stimmte ihr zu. Er konnte nichts sagen, weil alles was aus seinem Mund kommen würde, entweder grausame Wahrheit oder eine Lüge wäre. Aber Mr. Miller war kein Lügner.

Und obwohl er knallhart war, so würde er doch niemals seine Gedanken aussprechen und diesem armen Mädchen noch mehr Grund für Selbstvorwürfe geben.

Verbissen starrte ich ihn an und als er meinen intensiven Blick spürte, zuckten seine Augen von Amanda auf mich. Sie waren von einem sturmgrau und beinah genau so beängstigend wie Jasons, doch ich hielt ihnen stand. Und da bemerkte ich, dass er in meinem Blick mein jetzt erworbenes Wissen über seine Gedanken erkannte. Denn bei Gott, er war nicht dumm.

Gerade wollte ich Luft holen, um etwas zusagen, dass ihn entlarvte, als er mir zuvorkam.

"Vielleicht solltet ihr jetzt besser gehen, damit sich Amanda beruhigen kann.", meinte er und wandte den Blick von mir ab. Die anderen erhoben sich und zusammen liefern wir aus dem Büro.

Die Jungs bogen schließlich ab und wir liefen zu dritt weiter. Elyas kam uns entgegen.

"Hey.", begrüßte er und uns wandte sich dann an mich. "Kate, können wir reden?" Ich nickte stumm und Amanda und Jessy liefen weiter zu unserem Zimmer.

"Kate, ich hab das mit Chrissy gehört und es tut mir wirklich leid." Wieder nickte ich.

"Wenn du irgendwas brauchst, sag Bescheid und ich helfe dir, wo ich nur kann, okay?" Ich nickte abermals und lächelte matt.

"Danke.", schickte ich mich noch zu sagen, ging an ihm vorbei und machte mich auf den Weg zu unserem Zimmer. Dort ließen wir uns alle sofort in unser Bett fallen und schliefen ein.

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