- Prolog -

42.8K 1K 102
                                    

Für die zehnjährige Lisa fing der Tag an wie jeder andere, doch das Ende, das unterschied sich von allen bisherigen...

Wie jeden zweiten Freitag holten sie ihre Eltern von der Schule ab, um mit ihr nach Seattle zu fahren und dort das Wochenende bei ihrer kleinen, aber einnehmenden Familie zu verbringen. Nach einer fast vierstündigen Fahrt, während der sie in einer blauen Decke eingekuschelt, die sie seit ihrer Geburt besaß, auf der Rückbank schlief, waren sie endlich an ihrem Ziel angelangt.

Ihre Familie, die abgesehen von ihren Eltern aus ihrer Tante, Onkel, Großmutter, großen Cousine, ihrem Freund und einem kleinen süßen Malteser namens Bobby bestand, empfing sie wie immer ganz herzlich mit festen Umarmungen und einem riesigen Buffet im Wohnzimmer.

Nach dem Essen saßen sie noch weiterhin alle gemeinsam am Tisch, unterhielten sich über die unterschiedlichsten Themen, wie zum Beispiel Familie, Politik, Beziehungen und Promis und lachten ausgiebig während Lisa unter den länglichen Tisch krabbelte und Bobby hinterherjagte, der sich einfach nicht von ihr streicheln lassen wollte. Da es aber schon langsam relativ spät wurde, beschloss die Familie vor dem Schlafengehen noch einen kleinen Spaziergang zu machen, woraufhin sie nach langem hin und her endlich das Haus verließen und ihnen sofort die frische Abendluft entgegen wehte.

Lisa, die neben ihrer Mutter herlief, rümpfte wegen der Abgase der Autos die Nase und ließ ihren Blick durch die Gegend schweifen. Sie mochte Seattle und größere Städte allgemein noch nie so wirklich. Für sie waren es einfach zu viele Menschen, Autos und zu hohe, bedrohliche Häuser. Obwohl... Am Abend war die Stadt immer sehr schön, weil dann alles beleuchtet wurde und man die vielen bunten Lichter beobachten konnte, die sie manchmal ziemlich faszinierten.

Ihr Blick schweifte zu ihrer Cousine vor ihr, die die Leine von Bobby festhielt und sich mit ihrem Freund unterhielt. Bobby, der fröhlich mit dem Schwanz wedelte und immer wieder mal hier und da schnupperte, schienen die vielen Leute um ihn herum gar nicht zu stören. Stattdessen lief er vor ihre Füße, sodass diese anhalten oder sogar über die Schnur der Leine steigen mussten. Kichernd rannte Lisa auf ihn zu, wodurch er sich erschrak und ebenfalls sein Tempo beschleunigte - soweit es die Leine eben zuließ. Sie wollte ihn gerade fangen und streicheln, als ihr auf einmal etwas entgegen kam und sie sich daran stieß. Im nächsten Moment kam etwas hartes auf ihren Schultern auf, was ihren Rücken hinabwanderte und zu Boden fiel.

"Oh nein, geht es dir gut?", fragte eine junge Frau hektisch und legte ihr eine Hand auf die Schulter.

Verwirrt nickte Lisa und nuschelte: "Ja, entschuldigung." Sie drehte sich um und hob die Einkaufstüte und die Äpfel, die rausgerollt waren auf und übergab sie der Schwarzhaarigen, die diese dankend annahm und ihren Weg fortsetzte.

Die Zehnjährige sah sich um, erblickte jedoch nirgends ihre Familie oder den weißen Hund, den sie eben noch verfolgt hatte. Sie drückte sich immer weiter durch die Menge und hielt Ausschau nach bekannten Gesichtern, doch sah stattdessen nur unzählige fremde. Langsam stieg die Panik in ihr auf und die ersten Tränen fanden den Weg über ihre Wangen. Sie rief nach ihren Eltern, aber niemand antwortete ihr. Die Leute um sie herum beachteten sie nicht einmal und eilten schnellen Schrittes an ihr vorbei, als würden sie so ihrer bürgerlichen Pflicht entfliehen können, dem verlorenen Mädchen zu helfen. Einige rempelten sie bloß an und schimpften dann vor sich hin. Sie rannte und rannte, schrie immer wieder nach ihnen und beachtete dabei nicht mehr ihre Umgebung, bis sie plötzlich ein lautes Hupen vernahm und begriff, dass sie sich gerade auf der Straße befand. Dann verlief alles sehr schnell.

Als sie vor Schreck die Augen zusammen kniff, spürte sie eine warme Hand an ihrem Rücken, die sie stark nach vorne stieß. Sie riss die Augen auf, versuchte sich mit den Händen abzustützen, was ihr auch gelang und wirbelte dann herum.

Vor ihr stand ein älterer Junge und reichte ihr die Hand. Sie nahm diese zögernd an und fühlte dort ein starkes Kribbeln, das sie noch nie zuvor gespürt hatte. Seine Hand war warm und merkwürdigerweise fühlte sie sich schon im ersten Moment, als sie diese berührt hatte bei ihm geborgen.

Ihre Sicht war immer noch durch die Tränen verschleiert, weshalb sie ihn nicht deutlich sah. Das Einzige, was sie wirklich erkennen konnte, waren seine strahlend blau-grünen Augen, die sie aufmerksam musterten.

Er zog sie vorsichtig hoch und fragte mit einer beruhigend tiefen Stimme: "Wo sind deine Eltern?"

"I-Ich weiß n-nicht", stotterte sie aufgelöst. Er sah ihr einen Moment lang in die Augen ohne etwas zu erwidern während sie bemerkte, dass er ihre Hand immer noch in seiner hielt.

Mit ihren zehn Jahren war ihr schon bewusst, dass sie wohl eigentlich Angst vor ihm haben sollte, ja wahrscheinlich wäre es sogar besser wegzulaufen, doch sie fühlte sich in diesem Moment auf einmal so sicher und wusste einfach, dass alles gut wird auch, wenn dieser Junge etwas seltsames Dunkles an sich hatte, was sie sich nicht erklären konnte und auch noch nicht verstand.

Der laute Motor eines Wagens, der an ihnen vorbei fuhr, ließ Lisa aufschrecken und erinnerte sie an das, was eigentlich geschehen war. Nun stellte sich ihr die Frage, wie dieser Junge es überhaupt geschafft hatte sie so schnell wegzustoßen ohne, dass er selbst angefahren oder gar überfahren wurde.

Plötzlich ertönte im Hintergrund die Stimme ihres Vaters, der ihren Namen rief und kurz darauf auch schon die verzweifelten Rufe der anderen Familienmitglieder.

In dem Moment, als sie ihren Blick von den fesselnden Augen des älteren Jungen löste und ihm den Rücken zukehrte, spürte sie wie er ihre Hand losließ und leise sechs Worte murmelte: "Pass besser auf dich auf, Lisa."

Als sie sich noch mal zu ihm umdrehte, um sich zu vergewissern, dass er das gerade wirklich gesagt hatte, war er nicht mehr da. Einfach weg so, als hätte er sich in Luft aufgelöst. Sie spürte etwas Weiches in ihrer kleinen Hand, die gerade die des Jungen gehalten hatte und blickte hinab. Dort befand sich eine kleine graue Feder, die leicht silber schimmerte.

Und schon hörte sie wie ihre Mutter erleichtert "Oh Gott Lisa, da bist du ja!", rief und sie in eine enge Umarmung gezogen wurde während sie die Feder fest in der Hand hielt.

His Secret ✓Where stories live. Discover now