> 𝗞𝗮𝗽𝗶𝘁𝗲𝗹 𝟭

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Ein letztes Mal noch sehe ich mich in meinem alten Zimmer um. Ich betrachte die leeren Wände, die vor noch nicht allzu langer Zeit mit Postern von meinen Lieblingsmusikern und anderen Bildern zugeklebt waren und die kahlen Stellen, an denen mein Schrank, mein Bett und mein Schreibtisch standen.

„Tschüss, altes Zimmer. Hoffentlich sehen wir uns nie wieder." Ich schließe die Tür hinter mir und laufe die Treppe hinunter, die ein letztes Mal vertraut knarzt. Es kommt mir komisch vor, das Haus zu verlassen, in dem ich mein ganzes bisheriges Leben verbracht habe. Trotzdem spüre ich, wie eine gewisse Last von mir abfällt, als ich endgültig das Haus verlasse und die Haustür hinter mir schließe.

Meine Eltern bringen gerade noch das letzte Gepäck ins Auto, als meine beste Freundin Fiona plötzlich in unserer Einfahrt auftaucht.
„Hey", begrüße ich sie und gehe zu ihr.

„Hey", gibt sie mit einem traurigen Lächeln zurück. Fiona fällt mir um den Hals und drückt mich fest an sich. „Ich werde dich vermissen, Avery", murmelt sie in meine Halsbeuge.

„Ich dich auch", erwidere ich.

Als wir uns wieder voneinander lösen, bemerke ich, wie sie sich mit dem Handrücken über die Augen reibt, was mich zum Lächeln bringt. „Könntest du nicht wenigstens mal kurz so tun, als würdest du doch gerne hierbleiben?"

Mein Lächeln verschwindet und ich senke den Blick leicht.

„Hey, die meisten haben es doch wieder vergessen. Außerdem ist Bl..." Mein Kopf schießt nach oben. Ich werde meiner besten Freundin einen warnenden Blick zu. „Sorry. Er ist doch schon lange nicht mehr hier und je länger die Sache her ist, desto weniger werden sich alle daran erinnern."

Die Sache. Als ich dem beliebtesten Schüler der Schule in meinem ersten Jahr an der Highschool meine Liebe gestand, mit einer Abfuhr gedemütigt und noch bis heute – mehr als ein Jahr später – deswegen ausgelacht wurde. Als ich noch von der Repräsentation der Highschool aus Filmen und Büchern geblendet war und wirklich dachte, jemand wie Blake Parker würde sich mit mir abgeben wollen. Man sollte eigentlich denken, dass es mutig ist, jemandem zu sagen, dass man ihn mag, aber in meinem Fall war es der größte Fehler, den ich je gemacht habe. Hätte ich die Chance, würde ich es rückgängig machen. Allein schon, damit ich diese täglichen Schikanen nicht hätte erleben müssen.

Damals dachte ich, dass ich „nur" für wenige Wochen damit aufgezogen werden würde und nicht für ein ganzes Jahr. Noch weniger wusste ich, wie sehr es sie Runde machen würde. Der Fluch der Kleinstädte. Seitdem habe ich es gehasst, hier zu wohnen, weil hier wirklich alles rumerzählt wird und man für immer gebrandmarkt ist. Das Traurige ist, dass hier kaum etwas Besonderes passiert, sodass sich alle jahrelang noch daran aufhängen müssen.

Daran zu denken, versetzt mir einen Stich in die Magengrunde. Seit diesem Tag habe ich auf die erstbeste Chance gewartet, diese Schule – eigentlich diese ganze verdammte Kleinstadt Hanford – zu verlassen. Denn wie man es bei Gerüchten und peinlichen Aktionen so kennt, dauerte es nicht lang und irgendwann wusste jeder davon. Selbst meine zwei Jahre ältere Cousine Leah, die auf eine andere Highschool am anderen Ende von Hanford geht, hat mich damals darauf angesprochen. Sie war damals an dem letzten Schultag vor den Frühlingsferien auf einer Party, die jemand aus unserem Footballteam geschmissen hatte, und da war ich anscheinend auch das Thema des Tages. Vor meiner Liebeserklärung kannte mich kaum jemand, doch nach nur wenigen Stunden hatte ich es geschafft, von einem Niemand zum Gespött der ganzen Schule – und des ganzes Ortes – zu werden.

Diese Sache ist mittlerweile schon über ein Jahr her und selbst jetzt höre ich noch gelegentlich „Miss No-Parker" und „Miss Abserviert" von irgendwelchen Mitschülern. Und diese beiden Namen sind nur zwei von vielen weiteren Beispielen.

Fio schenkt mir ein mitleidiges Lächeln. „Die meisten seiner damaligen Freunde sind doch jetzt weg."

Da hat sie recht. Blake hing damals meistens mit Leuten herum, die älter waren als er. Die haben letztes Jahr zum Glück ihren Abschluss gemacht und sich auf verschiedene Colleges im ganzen Land verteilt. Oder liegen high auf den Sofa irgendeines Freundes. Bei einigen konnte ich mir das gut vorstellen. Sie hatten mich noch bis zum Ende ihrer Schullaufbahn damit aufgezogen, obwohl Blake schon seit Monaten weg war und ihnen das eigentlich irgendwann hätte langweilig werden müssen, aber diese Kerle wussten wirklich nicht, wann genug war.

„Ich weiß. Trotzdem bin ich froh, wenn ich die anderen nicht mehr sehen muss." Ich will ehrlich sein. Die Abfuhr vor über einem Jahr hat mir sehr zugesetzt. Abgesehen davon, dass ich meinen Style geändert habe, hat mich das extrem verunsichert. Damals war ich noch selbstsicher und selbstbewusst, was mich allerdings erst in diese Situation gebracht hat. Danach ist alles ins Wackeln geraten. Na gut, nachdem ich über ein Jahr lang damit aufgezogen wurde, schaffte ich es, irgendwann nicht mehr danach zu weinen und ignorierte alles, was sie sagten. Irgendwann was es nur noch lächerlich. Daher konnte ich mir wieder etwas Selbstbewusstsein aufbauen, aber ich schwor mir, nie wieder auf einen Jungen zuzugehen und ihm zu sagen, dass ich in ihn verliebt bin. Daraus habe ich gelernt. Diesen Fehler werde ich nie wieder machen.

„Das kann ich verstehen." Fio ist mir in dieser Zeit nicht von der Seite gewichen. Stets stand sie zu mir und hat jedem, der einen blöden Spruch gemacht hat, einen bösen Blick zugeworfen. Es hat zwar nicht viel daran gerändert, aber es hat mich trotzdem wieder aufgebaut und dafür bin ich ihr unendlich dankbar. Da tut es mir schon leid, dass ich sie allein lasse.

„Du wirst das durchstehen. Jetzt hast du wenigstens einen Grund, dich während des Mittagessens zu Trevor und seinen Freunden zu setzen", sage ich und wackle vielsagend mit den Augenbrauen.

Fionas Wangen werden rot. „Avery", stößt sie entsetzt hervor und stupst mich mit einer Hand leicht gegen die Schulter. Jedoch muss sie auch mitlachen.

„Mach's gut, Ave. Du kriegst das schon hin."

„Das werde ich. Du auch, Fio."

Noch ein letztes Mal umarmen wir uns, bevor meine Eltern uns ermahnen, dass wir langsam los müssen.

„Wir sehen uns spätestens an Weihnachten", rufe ich ihr noch zu, als ich auf unser Auto zugehe.

„An Thanksgiving. Aber vergiss bloß nicht, mich auf dem Laufenden zu halten!"

„Niemals", gebe ich als letztes zurück und schließe die Autotür hinter mir.

Dad fährt aus der Einfahrt und bleibt noch kurz stehen. „Habt ihr alles?", fragt er noch ein weiteres Mal.

„Ja", geben Mom und ich genervt im Chor zurück.

„Gut, dann geht es jetzt los." Endlich fährt er los. Ich drehe mich noch einmal um und winke meiner besten Freundin zu, bevor wir um die Ecke biegen und unser altes Zuhause endgültig nicht mehr zu sehen ist.

Tschüss, Hanford und hallo, neues Leben in Belview! Wo ich mich endlich neu erfinden kann. Prompt steigt mein Selbstbewusstsein wieder an und ich bin mehr als bereits, mir endlich einen neuen Ruf aufzubauen.

(𝗡𝗼𝘁) 𝗬𝗼𝘂 𝗔𝗴𝗮𝗶𝗻Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt