> 𝗞𝗮𝗽𝗶𝘁𝗲𝗹 𝟯𝟭

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Seit ich Fiona die Wahrheit gesagt habe, ist eine Woche vergangen und sie hat sich nicht mehr bei mir gemeldet. Ich verstehe ja, dass sie sauer und enttäuscht ist, aber es ist nicht meine Schuld, dass unser Besuch nicht stattfindet. Ich habe ja versuchte, meine Eltern zu überzeugen, mich alleine fahren zu lassen, aber sie sind nach wie vor dagegen.

Die angespannte Situation zwischen meinen Eltern und mir verbessert sich allmählich. Zwar nur langsam, aber wir reden wieder miteinander. Mom versucht immer das zu kochen, was ich gerne mag, um mir zu zeigen, wie leid es ihr tut. Sie versucht sich hauptsächlich mit leckerem Essen zu entschuldigen, was schon immer ihre Art gewesen ist.

Die einzigen zwei Personen, mit denen ich keinen Streit habe oder die mich nicht ignorieren sind Bri und Blake. Seit ich aufgehört habe, seine Mauer zwischen Blake und mir zu errichten und angefangen habe, ihn einfach als netten Jungen aus der Nachbarschaft und Klassenkamerad zu sehen, ist es viel leichter geworden. Es macht mir Spaß, morgens mit ihm zur Schule zu fahren. Außerdem ist er sein sehr vorsichtiger Fahrer, was mein Vertrauen zu ihm wachsen lässt.
Mittlerweile bin ich so vertraut mit seiner Musik geworden, dass ich schon einige Lieder mitsingen kann. Manchmal singen wir beide mit und können uns vor Lachen kaum noch halten, weil es so schief klingt. In der Schule sitzen wir zwar nicht zusammen, aber wir begrüßen uns immer, wenn wir uns über den Weg laufen. Insgesamt würde ich sagen, zwischen uns hat sich eine gute Freundschaft entwickelt, was ich anfangs zwar nicht wollte, sich aber anscheinend nicht vermeiden ließ.
Gerade hören wir Remembering Sunday von All Time Low. Blakes Lieblingslied, wie er mir vor kurzem erzählt hat.

„Ich kann verstehen, dass du es magst, aber es ist trotzdem traurig", sagte ich. Obwohl ich dieses Lied schön finde, ist es auch traurig. Es hat etwas Melancholisches und Gefühlvolles an sich. Eher hätte ich vermutete, dass Vegas von All Time Low sein Lieblingslied sei.

„Das stimmt. Aber manchmal mag man etwas, ohne genau zu wissen, warum. Man spürt einfach dass es das eine ist. Und so ist es bei mir immer wieder, wenn ich Remembering Sunday höre." Er warf mir einen kurzen Blick zu. Ich wusste genau, wovon er redete. Genauso fühle ich mich auch, wenn ich The Fray höre. Oder als ich zum ersten Mal die Tasten eines Klaviers berührte. Oder Blake damals das erste Mal auf dem Footballfeld sah. Ich schüttelte den Kopf in der Hoffnung, meinen letzten Gedanken so schnell wie mögliche loszuwerden.

Jeden Morgen läuft Remembering Sunday mindestens einmal am morgen und immer blicke ich dabei verstohlen zu Blake herüber. Ich bemerke, wie sich seine Haltung verändert. Er setzt sich aufrechter hin und lässt das Lenkrad lockerer in seinen Händen. Ein kaum merkliches Lächeln schleicht sich auf seine Lippen, aber ich bin mir nicht sicher, ob es ein glückliches oder melancholisches ist. Jedenfalls wirkt er wie in sich gekehrt, wenn dieses Lied läuft und ich frage mich immer wieder, warum das so ist. Ich bin mir nämlich sicher, dass etwas mehr dahintersteckt, als er mir erzählt.

„Wie verbringt ihr eigentlich Thanksgiving?", frage ich, als das Lied zu Ende ist und das nächste startet.

„Meine Mom, Ash und ich kochen irgendwas", antwortet er und setzt ein freudloses Lächeln dahinter.

„Nur ihr drei? Keine Großeltern?"

Blake schüttelt den Kopf. „Nur wir drei", wiederholt er mit einer Schwere in der Stimme. „Und was macht ihr an Thanksgiving?"

„Meine Mom hat wieder einmal die Vorstellung von einem riesigen Thanksgivingessen, aber dieses Mal wird es nur für sie, Dad und mich sein." Die Enttäuschung in meiner Stimme kann ich nicht unterdrücken. Ich liebe Moms Essen, besonders das an Thanksgiving, aber ich glaube, dass es mir dieses Mal nicht so gut schmecken wird wie sonst, weil ich weiß, dass etwas fehlt.

„Ihr fahrt gar nicht zu euren Verwandten?", fragt er verwundert und schaut mich flüchtig an.

„Nein, leider nicht. Dieses Jahr bleiben wir hier." Daraufhin nickt er nur kurz und steuert schon den Parkplatz der Schule an.

*

„Möchtest du mir morgen beim Kochen des Thanksgivingessens helfen, Avery?", fragt Mom mich beim Abendessen. Normalerweise hätte Tante Erica ihr dabei geholfen, während meine Cousine Leah und ich den Tisch gedeckt hätten. Dad und Onkel Adam hätten den Nachtisch vorbereitet. Doch jetzt bleibt die Arbeit an Mom hängen.

„Ja", stimme ich schließlich widerwillig zu.
„Wir müssen uns aber nicht um den Nachtisch kümmern. Den macht Maggie", erwidert die freudig.

Moment mal, was? „Maggie?", frage ich verwirrt. „Was meinst du damit?" Irgendwie hätte es mir ja klar sein sollen. Warum kam mir das nicht schon direkt in den Sinn, als Blake sagte, er würde Thanksgiving nur mit seiner Mom und seinem Bruder feiern.

„Maggie und ihre Söhne kommen morgen zu uns." Ich weiß nicht, was ich davon halten soll. Ich mag Maggie, Ash und Blake, aber Thanksgiving war schon immer ein Familienfest für mich und plötzlich muss Familie Parker bei allem dabei sein.

Die Unsicherheit in Moms Blick wächst. „Du hast doch nichts dagegen, oder? Du magst sie doch."

„Ähm... ja schon, aber... ich meine, das ist doch eine Familienangelegenheit, oder nicht?"
Mom wirft Dad einen Blick zu, bevor sie mich wieder ansieht. „Ja, aber sie feiern auch alleine. Da dachten wir uns, dass wir genauso gut auch gemeinsam feiern können."

„Ist das der Grund, weshalb wir nicht nach Hanford fahren konnten?"

„Nein, Avery. Ich habe dir doch gesagt..."

„Ach, Mom. Ich weiß, dass ihr mich angelogen habt. Also wie wär's zur Abwechslung mal mit der Wahrheit?" Ich habe keine Lust mehr, mich anlügen zu lassen. Ich bin 16 Jahre alt und nicht mehr sechs, ich kann die Wahrheit vertragen.

Dad atmet tief durch, bevor er sich mir zuwendet. Gebannt schaue ich ihn an. „Wir können es uns nicht leisten", antwortet er niedergeschlagen.

Ich blinzle ihn an. „Wie meinst du das?"

„Der Umzug hierhin war doch etwas teurer als gedacht", gibt er zu.

Ich verstehe es nicht. „Was hat das denn damit zutun? Wir müssen uns doch kein Hotelzimmer nehmen oder so."

Dad wechselt einen Blick mit Mom, welche weiterspricht. „Das wissen wir, aber weder dein Dad noch ich können uns für ein langes Wochenende Urlaub nehmen. Und da Erica dieses Jahr mit uns allen nach Colorado wollte, mussten wir absagen. Der Flug wäre viel zu teuer gewesen."

„Also gibt es gar keine Spannungen in der Familie. Wir können nur die Reise nicht bezahlen", fasse ich alles noch einmal zusammen. Mom und Dad nicken zustimmend. Ich senke den Blick und schaue auf die Kartoffeln auf meinem Teller. Ein schlechtes Gewissen überrollt mich. Hätte ich das gewusst, hätte ich nicht so zickig reagiert. Klar, ich wäre trotzdem enttäuscht gewesen, aber das ist jetzt eine ganz andere Situation. Ich weiß zwar, dass wir nicht die reichste Familie sind, aber dass es anscheinend so um uns steht, war mir nicht bewusst. „Es tut mir leid, wie ich reagiert habe, aber ihr hättet mir die Wahrheit sagen sollen." Erneut hebe ich meinen Blick und schaue in die entschuldigenden Gesichter meiner Eltern.

„Wir wollten es dir so direkt nicht sagen, weil wir wussten, dass du dir darüber Gedanken machen würdest", antwortet Dad. Ein schwaches Lächeln schleicht sich auf meine Lippen. Wie gut sie mich doch kennen.
„Wir kriegen das hin, Schatz. Wir sind gerade mal wenige Monate hier und du weißt ja, aller Anfang ist schwer. Dafür fahren wir aber an Weihnachten zurück. Das versprechen wir dir."
Mom und Dad lächeln mich ermutigend an.

„Okay. Wenn ich irgendwie helfen kann..."
Mom schüttelt den Kopf. „Nein, Avery. Das wird schon. Konzentriere du dich auf die Schule."

„Okay. Ich helfe dir morgen gerne mit dem Essen, Mom", wiederhole ich meine Worte von vorhin enthusiastischer. Auf Moms Lippen zeichnet sich ein ehrlich es Lächeln ab. „Das freut mich zu hören."

(𝗡𝗼𝘁) 𝗬𝗼𝘂 𝗔𝗴𝗮𝗶𝗻Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt