> 𝗞𝗮𝗽𝗶𝘁𝗲𝗹 𝟮𝟲

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„Oh Mann, bin ich froh, wenn ich gleich wieder Zuhause bin und mich ausruhen kann", stöhnt Bri nach Schulschluss auf dem Weg nach draußen.

„Ich habe dir ja gesagt, dass du besser noch Zuhause hättest bleiben sollen, statt dich hier zu quälen. Du warst die letzten zwei Stunden doch gar nicht mehr richtig anwesend."

Mittlerweile sieht sie noch blasser aus als heute Morgen. Nach der Mittagspause hat man ihr deutlich angemerkt, dass sie sich nur noch von Stunde zu Stunde schleppte. Den Kopf stützte sie auf ihrer Hand ab und starrte erschöpft in die Richtung der Lehrerin nach vorne. Ich hatte ihr immer wieder gesagt, sie solle doch nach Hause gehen. Ich hätte sie sogar zum Krankenzimmer gebracht, damit sie dort von jemandem abgeholt werden kann, aber sie wollte nicht. „Ja, aber..."

„Du wolltest den Unterrichtsstoff nicht versäumen, schon klar. Ich hätte die aber alle wichtigen Arbeitsblätter und Notizen vorbeigebracht, wenn du nicht gekommen wärst."

„Danke. Das weiß ich zu schätzen, Ave", sagt meine Freundin mit einem kleinen Lächeln. Ein weißer Suv hupt in der Ferne und zieht unsere Aufmerksamkeit auf sich. Ich frage mich, ob das Hupen uns, oder eher Bri galt, da ich niemanden kenne, der so ein Auto fährt.

„Meine Mom ist da", seufzt sie erleichtert.

„Wenn du möchtest, können wir dich nach Hause fahren."

Gerade möchte ich zu einer Antwort ansetzen, als eine bekannte Stimme das für mich übernimmt. „Das ist nett von dir, Brianna, aber Avery kann mit mir fahren."

Überrascht drehe ich meinen Kopf zu Blake. „Ich dachte, du hast Training", erwidere ich verwirrt. Noch nie sind wir gemeinsam von der Schule nach Hause gefahren, weil er nachmittags immer Training hat. War das etwa eine Lüge, sodass er mich nur morgens ertragen muss und nicht länger?

„Heute nicht", antwortet er kurz angebunden. „Also, Avery, kommst du mit?"

Ich habe die Wahl zwischen dem Bus, der erst in einer Viertelstunde kommt, Bris Mom, die wegen mir extra einen Umweg fahren müsste und Blakes Auto, das bereits hier steht und mit dem ich am schnellsten Zuhause wäre. Wir haben denselben Weg, also wäre es doch dumm von mir, wenn ich ablehnen würde und dann mit Brianna mitfahren würde, oder? Außerdem wäre es besser, wenn sie sich so schnell wie möglich wieder ins Bett legt und ausruht.

„Ja, ich komme", sage ich an Blake gewandt und dann an Bri, „Trotzdem danke und gute Besserung." Wir verabschieden uns voneinander und gehen zu Blakes Auto. Er schließt es auf und wir setzen und hinein. Selbst nachdem wir uns angeschnallt haben, macht Blake keine Anstalten, loszufahren.
„Also, wenn du nicht vorhast, zu fahren, würde ich jetzt gerne aussteigen und den Bus nehmen." Ich habe meine Hand wieder an dem Anschnallgurt, als Blake endlich etwas sagt. „Ich habe nachgedacht." Oh wow, er kann denken. Ich muss mich zusammenreißen, das nicht laut auszusprechen. „Ich wollte dich nicht vor deiner Familie bloßstellen. Das sollte nur ein Witz sein, aber du hast es anders aufgefasst, als ich erwartet habe und das wollte ich nicht. Es tut mir wirklich leid, Avery." Mit einem schuldbewussten Ausdruck in seinen braunen Augen sieht er mich an und kurz denke ich, eine jüngere Version von Blake zu sehen.

„Ich nehme deine Entschuldigung an." Ich würde gerne sagen, dass es okay ist, aber das wäre eine Lüge und ich will nicht, dass er denkt, dass es mir nichts ausmacht. Erleichtert verzieht er seine Lippen zu einem Lächeln.

„Und mir tut es leid, dass ich so ein Drama daraus gemacht habe." Im Nachhinein komme ich mir schon ziemlich blöd vor, weil meine Reaktion überzogen wirkt, aber zu diesem Zeitpunkt vollkommen angemessen.

„Das ist okay. Wobei ich dir vielleicht eher helfen könnte, wenn du mir verraten würdest, warum du so ein Drama gemacht hast."

Kann ich ihm wirklich vertrauen? Ehrlich gesagt weiß ich es nicht, aber anderenfalls bin ich nicht wehrlos und könnte ich zurückschlagen. Ich atme tief durch und fange an zu reden. „Wie du weißt, ist meine Mom eine super Köchin und tolle Bäckerin. Sie macht für jeden Geburtstag und andere Anlässe die Kuchen und sie schmecken einfach himmlisch. Da sollte man doch eigentlich denken, dass ich, als ihre Tochter, auch ein Talent zu, Backen oder Kochen hätte, aber das habe ich nicht. Ich habe schon so viele Kuchen versucht zu backen, aber sie sind mir immer wieder verbrannt, waren hart wie Stein oder haben einfach widerlich geschmeckt. Jedes Mal konnte ich die Enttäuschung in Moms Blick sehen und kam mir wie eine Versagerin vor. Mit meinem Dad habe ich auch kein bisschen gemeinsam. Vielleicht habe ich ein wenig Ahnung von Football, aber mein Herz hängt nicht so sehr daran wie seins oder deins. Ich habe ständig das Gefühl, mich irgendwie beweisen zu müssen, obwohl sie doch meine Eltern sind und mich so lieben sollten, wie ich bin", sprudelt es aus mir heraus. Peinlicherweise rollt eine erste Träne meiner Wange runter. Schnell wische ich sie mit meinem Jackenärmel weg, doch Blake hat es bereits mitbekommen. Schon damals hatte ich mir geschworen, nicht vor ihm zu weinen.
Er kramt in seiner Jackentasche herum und fischt schließlich eine Packung Taschentücher heraus, die er mir gibt. Mit einem schwachen Lächeln bedanke ich mich und wische mir die Tränen weg und putze mir die Nase.

(𝗡𝗼𝘁) 𝗬𝗼𝘂 𝗔𝗴𝗮𝗶𝗻Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt