- Kapitel 1: Neun Schuss -

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Asavi hatte den Engel nicht gehört oder gesehen. Die stahlgrauen Wolken filterten das Sonnenlicht so gründlich, dass die Welt um sie herum eher einem lithographischen Kunstwerk, statt einer Kleinstadt ähnelte. Alles war in einen farblosen Graustich getaucht und durch den Regen waren auch die letzten Farbtupfer der zerfetzten Reklametafeln verwaschen. Verrostete, halb überwachsenen Karosserien lagen gestrandet in den verlassenen Straßen und behinderten sie im Vorankommen.

Asavi hatte den Engel nicht gesehen, er sie hingegen schon.

Die Zeit, die Umgebung und sie selbst war eine andere, die Angst jedoch, blieb gleich.

Sie rannte durch die Gassen, ungeachtet der Tatsache, dass sie niemals schneller sein würde als einer von ihnen. Der Regen peitschte ihr ins Gesicht und stach in der schwülen Luft wie kleine Nadeln auf ihrer Haut. Sie war immer so vorsichtig gewesen. Hatte sich an den letzten, wichtigen Lebensweisheiten ihres Vaters orientiert und sich die kratzige Stimme ihres Großvaters immer wieder ins Gedächtnis gerufen.

 Hatte sich an den letzten, wichtigen Lebensweisheiten ihres Vaters orientiert und sich die kratzige Stimme ihres Großvaters immer wieder ins Gedächtnis gerufen

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»Wir halten uns fern von Menschengruppen hier draußen, verstanden? Sie sind genauso eine Gefahr, wie die Engel. Stehlen zwar nicht deine Seele, aber dafür deinen Körper und alles, was du besitzt.« Ihr Vater sah sie aus ernsten Augen an.

»Warum sagst du mir das?« Die brütende Hitze brannte sich selbst durch die schattenspendenden Blätter der Zerreiche über ihren Köpfen.

»Weil ich nicht immer für dich da sein werde, kleiner Teufel.« Ihr Vater legte ihr die von Narben gezeichneten Hände auf die schmächtigen Schultern. Um sie herum schrien die Zikaden und Grashüpfer im trockenen Gras. Das graue Band der Landstraße erstreckte sich endlos in beide Richtungen und sah mit seinen unzähligen Schlaglöchern aus, wie ein Schweizer Käse. Ihr Großvater stand ein wenig abseits und las die Karte.

»Hör zu, meide die Klanstädte, wenn du es kannst, lass dich nicht auf einen Deal mit den Fürsten ein, sie nehmen dich aus wie ein abgestochenes Schwein oder hängen dich als Köder in ihre Fallen.« Verrate niemandem, was und wen du suchst. Sprich mit niemandem, wenn ich oder dein Großvater nicht zugegen sind. Und Asavi?«

Asavi schluckte beklommen. »Ja?«

»Zuerst schießen, dann Fragen stellen.« Er drückte ihr eine geladene Schrotflinte in die Hände und nickte ihr zu. Es war ihr sechzehnter Geburtstag. Seit drei Jahren wütete der aussichtslose Krieg gegen die Engel und unter der Last von drei Fronten brach schlussendlich auch der letzte Rest an gesetzlicher Organisation zusammen.

~

Ihr Großvater fand kurz danach den Tod und vor elf Monaten ließ sie ihren Vater zum Sterben zurück. Asavi stellte ernüchtert fest, dass diese elf Monate alleine zu überleben mehr waren, als sie sich je erhofft hatte.

Ihre Stiefel schlugen hart auf den regennassen Asphalt auf und die Erschütterung ihrer Füße vibrierte ihr die Wirbelsäule entlang in jeden ihrer Knochen. Hinter sich hörte Asavi die schweren, langen Schritte ihres Verfolgers, als der Engel ihr nachsetzte. Das Kreischen von Metall auf Beton, das Knirschen von Stein auf Stein kündigte Asavis Ende an. Das hohe Singen seiner gesplitterten Flügel pfiff durch die leeren Gassen und vermischte sich mit dem Regen zu einer Kakophonie der Zerstörung.

[Sci-Fi/Fantasy] Starfall - Wenn der Himmel fälltWhere stories live. Discover now