{ 1. Kapitel }

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„Sehr geehrte Miss Summers,

aufgrund mehrfachen Verstoßens gegen die Grundregeln der Akademie und wiederholtem Ignorieren der Verwarnungen und Anordnungen, verweisen wir Sie hiermit von der Akademie „Selias". Wir geben Ihnen noch einen Tag Zeit um ihre Sachen zu packen und um das Akademiegelände zu verlassen. Wir wünschen Ihnen viel Erfolg auf Ihrem weiteren Lebensweg.

Mit freundlichen Grüßen
der Akademieausschuss"

Schockiert blinzelnd starrte ich auf das Blatt Papier in meiner Hand. Scheiße scheiße scheiße, dachte ich nur. Das soll es jetzt gewesen sein? Ich stöhnte frustriert und sackte kraftlos an dem Baumstamm, an dem ich lehnte, zu Boden. Verzweifelt schloss ich meine Augen. Das konnte doch alles nicht wahr sein! Mein Leben war vorbei, aus, finito! Aus war der Traum einer der Wächterinnen der tausend Seen zu werden, ich konnte mir meine Zukunft buchstäblich sonst wohin stecken.

Wie betäubt blieb mein Blick an den kleinen Grashalmen vor mir hängen, die sich stetig sachte im Wind hin und her bewegten. Unermüdlich, in einem unregelmäßigen Rhythmus, aber dennoch bestimmt, als wüssten sie, wohin ihr Leben gehen würde...ganz im Gegensatz zu mir, die sich nach dieser Ankündigung ihre Pläne definitiv abschminken konnte.

Nur mit Mühe drängte ich die Tränen zurück, die sich hinter meinen Augenlidern sammelten und den grünen Anblick, verziert von kleinen weißen Gänseblümchen, vor meinen Augen verschwimmen ließen. Schließlich war ich auch sonst niemand, der seinen Emotionen schnell freien Lauf ließ oder einen Grund zum Verzweifeln sah, wenn es gar keinen gab. Aber ganz ehrlich, das war auf jeden Fall einen Grund zum Verzweifeln! Ich hatte gerade mein ganzes Leben versaut! Und das mit nur einer verdammten, unüberlegten Aktion... okay, zusätzlich zu den unzähligen anderen. Ich spürte, wie mein Herz unruhig in meiner Brust pulsierte, so, als wolle es aus meinem Körper fliehen und sich den unangenehmen Konsequenzen entziehen.

„Verdammt! Wie soll ich das nur wieder hinkriegen?", seufzte ich niedergeschlagen und voller Wut auf mich selbst. Die Aktion war das Ganze definitiv nicht wert gewesen. Ich erinnerte mich an diese begangene Dummheit, als wäre es erst gestern gewesen... gut, zugegeben, es war tatsächlich auch erst drei Tage her.

Meine beste Freundin Lilya, zwei wirklich heiße Neyen namens Milo und Nyle und meine Wenigkeit hatten uns zum Schwimmen getroffen. Es mochte wie keine von Dramatik erfüllte Angelegenheit klingen, wenn man es so formulierte. Aber wenn man bedachte, dass es weit nach Sperrstunde kurz vor einem Vollmondabend gewesen war, sah die Sache ganz anders aus. Der Mond stellte nämlich Dinge mit uns an, die nicht ganz jugendfrei waren. Klar formuliert: Er ließ Begierden in uns erwachen, die ziemlich schnell ins Auge gehen konnten. Wenn der große, runde Mond in voller Pracht am Himmel schien, war dies nämlich jeden Monat der einzige Abend, an dem es uns weiblichen Neyinnen möglich war, schwanger zu werden. Und dies war uns vor unserem 20. Geburtstag strengstens untersagt. Zum einen, weil wir unsere Ausbildung abschließen mussten, bevor wir uns der Familienplanung widmen durften, zum anderen, weil nur ausgewählte, weibliche Neyinnen überhaupt ein Kind groß ziehen durften. Dies lag wiederum zum einen daran, dass wir jede verfügbare Wächterin benötigten, um unsere Kraft, die aus der Natur gewonnen wurde, zu sichern, und zum anderen, damit unsere Akademien, die nur über begrenzten Platz verfügten, einen jeden jungen Neyen aufnehmen konnten.

Und an Vollmond verschwand sozusagen meistens jeder gesunde Menschenverstand aus unseren Köpfen und ließ nur Platz für den Gedanken an heiße Küsse und...mehr. Gut, nun war es der Abend vor Vollmond gewesen – schließlich waren Lilya und ich ja nicht total verrückt – aber je näher der Vollmond in einem Monat rückte, desto liebestoller fühlten sich die Neyen. Und öffentliches Rummachen war - lediglich mit einem knappen Bikini bekleidet – natürlich auch total verboten.

Dies war der Grund, warum ich nun von der Akademie geflogen war. Natürlich, die anderen Vergehen kamen noch dazu – wiederholtes Ignorieren der Sperrstunde gefolgt von unhöflichem Verhalten in den Lehrstunden und ein paar kleine, verbotene, magische Auseinandersetzungen waren auch dabei gewesen, aber war das denn ein Grund, mich von der Akademie zu werfen?

Offensichtlich schon, dachte ich resignierend, als ich aus meinen Gedanken zurück in die Wirklichkeit driftete und feststellte, dass auch dieses Papier noch verdammt real war, ebenso wie die Worte, die auf ihm geschrieben standen.

Ich atmete tief durch, drängte die Panik zurück, die sich bereits in mir bemerkbar machte und beschloss, mich zusammenzureißen. Einmal im Leben sollte ich vielleicht mal meinen Kopf einschalten und wirklich nachdenken. Ich meine, das konnte es doch nicht gewesen sein. Irgendetwas musste mir doch einfallen, um aus der Sache wieder herauszukommen. Niedergeschlagen den Kopf in den Sand zu stecken war noch nie meine Art gewesen – und schon gar keine Methode, um Probleme zu lösen.

Ich beschloss, mich erst einmal umzuhören, wie es bei Lilya gelaufen war. Ich hatte meine beste Freundin seit der Mittagspause nicht mehr gesehen, ob sie auch einen Verweis erhalten hatte? Meiner war mir heute in der ersten Stunde nach der Pause überreicht worden, wenn sie einen erhalten hatte, war es sicherlich etwa zur selben Zeit geschehen. Nun war die Lehrzeit vorbei und ich beschloss, Lilya zuerst auf unserem Zimmer zu suchen. Normalerweise war dies unser Treffpunkt, wenn wir nicht dieselben Stunden gehabt hatten, was doch reichlich oft der Fall war – schließlich war Lilya eine Dryade und ich gehörte zu den Nereiden. Vermutlich war das mit dem See auch deshalb meine Idee gewesen. Ich liebte das Wasser – es war durch und durch mein Element. Aufbrausend, stürmisch und kraftvoll – wie die Brandung des Meeres, so war auch ich.

Ich atmete einmal tief durch, gemahnte mich innerlich zur Ruhe, zwang mir einen positiven Ausdruck auf meine Gesichtszüge – es gab auf dieser Akademie einfach viel zu viele neugierige Neyen, die sich für alles andere außer ihnen selbst interessierten  – und machte ich mich auf den Weg über den kleinen Pfad zurück in eines der Wohngebäude der Neyinnen. Bevor ich mein kleines Rasenstück gänzlich verließ, warf ich noch einmal einen Blick zurück, auf die im Wind leicht schwankenden Grashalme und ihre floralen, weißen Gefährten. Der vertraute Anblick der beständigen Natur verlieh mir noch etwas mehr Kraft und Gefasstheit und ich holte ein letztes Mal tief Luft, bevor ich losging. Ich hoffte wirklich, dass ich Lilya in unserem gemeinsamen Zimmer auffinden würde – schließlich mussten wir einen meisterhaften und bombensicheren Plan entwickeln, wie ich heil aus dieser vermaledeiten Sache herauskommen könnte – und das in weniger als 24 Stunden.

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