{ 35. Kapitel }

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Im Gegensatz zu Brax, machte Dasyl der Regen nichts aus.

Obwohl er innerhalb von wenigen Sekunden komplett durchnässt wurde, blieb er die Ruhe selbst. Bestimmt und mit federnden Schritten ging der Hüne vor mir her und ich folgte ihm mit einem gewissen Abstand – es konnte nicht gut sein, ihm zu nahe zu kommen.

Während er auf ein Ziel zusteuerte, welches mir im Augenblick noch gänzlich unbekannt war, blickte ich mich neugierig um – und auch ein wenig wachsam. Immerhin befand ich mich hier nach wie vor inmitten von Layphen und war noch dazu mit einer Person unterwegs, die mich womöglich als Erste verspeisen würde, wenn es ihr denn erlaubt wäre. Als ich mich an Dasyls Worte erinnerte, überzog ein Frösteln meine nackten Arme, welches keinesfalls von den kühlen Tropfen des Regens verursacht wurde, sondern von dem Gedanken an die heutige Nacht. Denn Dasyl hatte recht – ich würde allein sein, und leicht angreifbar.

Schließlich schlug unser Weg einen leichten Knick ein, der mir den Blick an einer Steinmauer des Gewölbes vorbei auf das ermöglichte, das Dasyl ansteuerte: Meinen eigentlichen Rettungsanker, der sich letztendlich jedoch weniger Rettung herausgestellt hatte und mehr als Quell meiner Bewusstlosigkeit.

Als wir an dem eindrucksvollen Baum angelangt waren, blieben wir im Schatten seiner Krone stehen, die den größten Teil des strömenden Regens abhielt. Regelmäßig spürte ich jedoch, wie noch gewaltigere Tropfen auf meinen Kopf hinab fielen, da ihr Gewicht für die dünnen Blätter zu groß wurde. Unbeeindruckt verschränkte Dasyl jedoch die Arme vor der Brust und wandte mir seinen Blick zu, nachdem er sich zu mir umgedreht hatte.

„Na, Neyin? Was meinst du, warum ich dich hierher gebracht habe?" Fragend zog er eine Augenbraue hoch, während ein kaum wahrnehmbares Lächeln um seine Lippen spielte.

Ich ließ meinen Blick an dem massiven, braunen Stamm empor gleiten. Was konnte so wichtig für die Layphen sein, dass er mir als Erstes den Baum hier präsentierte? Ich kannte auch nach einigen Momenten des Nachdenkens keine Antwort auf diese Frage und zuckte daher nur mit den Schultern. „Keine Ahnung. Erklär du's mir", forderte ich ihn auf.

Dasyl räusperte sich, legte seine rechte Hand auf den Baumstamm und sah empor zu seiner blätterumsäumten Krone. „Dies hier ist der Quell unseres Lebens. Das wichtigste Gut, das es um jeden Preis zu verteidigen gilt. Selbst, wenn unsere Feinde eindringen, um uns alle zu töten, wird diese Buche es sein, derer zu Ehren wir gern unser aller Leben lassen werden." Seine Stimme klang ernst und voller Gefühl. Auch ohne in seine Augen zu blicken, wusste ich, dass es ihm ernst war.

Verwundert sah ich ihn an. Ich hätte nicht gedacht, dass den Layphen ein einziges Stückchen Natur so am Herzen liegen könnte. Nachdenklich ließ ich meinen Blick noch einmal über die Buche wandern, als plötzlich ein heiseres Lachen meine Gedanken unterbrach.

„Sag mir jetzt nicht, dass du mir den Scheiß abgekauft hast?", fragte er mich mit einem abfällig wirkenden Gesichtsausdruck, doch als er die Verwirrung in meinem Blick sah, wandelten sich seine Züge in pures Erstaunen. „Das kann nicht dein Ernst sein! Neyin, wir befinden uns nicht in eurer blumenumsäumten, von kristallklarem Wasser umgebenden und grasbedeckten Vögelchen-Akademie. Wir sind Layphen. Wir brauchen Blut und keine Bäume, um zu überleben!" Er schüttelte seinen Kopf. „Ich hatte dich bereits für naiv gehalten, aber das sprengt den Rahmen. Werd endlich den Gedanken los, dass es hier so ist wie in deiner alten Akademie!"

Ich verengte meine Augen. Dass es hier nicht so wahr wie bei Lilya und Aryan, musste mir keiner erzählen – erst recht nicht so ein aufgeblasener Wichtigtuer wie Dasyl. „Bezeichne mich nicht als naiv, Freunden", fauchte ich. „Tut mir wirklich leid, dass ich dachte, in euch würde mehr stecken als nur blutsaugende Ungeheuer!" Ich betrachtete ihn abwertend, ließ meinen Blick über seine Gestalt schweifen. „Wage es außerdem nicht, dich über unsere Prinzipen lustig zu machen. Es ist wichtig, die Natur zu schützen – oder seid ihr bald genauso hirnlos wie die Menschen?"

Nymphenkuss Where stories live. Discover now