{ 53. Kapitel }

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Im Laufe des Tages wurde ersichtlich, dass es keine weitere Wunderheilung geben würde.

Nach der Zunahme von Tierblut ging es Brax stets für wenige Stunden besser. Die Striemen verblassten und der Layph schöpfte Kraft. Doch immer schneller gewannen die Zeichnungen unter seiner Haut wieder an Farbkraft hinzu, das Fieber meldete sich zurück und die Schmerzen verschlimmerten sich. Im Laufe des Sonntags und Montags wurde deutlich, dass auch die Abstände, in denen das Tierblut ihn heilte, kürzer wurden und die Wirkung des Giftes rascher wieder zuschlug. Keiner wusste genau, wie lange das Tierblut überhaupt noch kurzfristig helfen würde – oder was geschah, wenn es dies nicht mehr tat.

Ich fühlte mich furchtbar. Obwohl ich wusste, dass es egoistisch war, sich schlecht zu fühlen – schließlich litt nicht ich unter dem Einfluss des Giftes – konnte ich gegen das Gefühl der Machtlosigkeit nichts unternehmen, das sich meiner bemächtigte und wie eine Flut über meine Seele schwappte.

Es tat weh, Brax dabei zuzuschauen, wie er litt. Mir fehlte seine Unbeschwertheit, sein Lachen, seine gute Laune.

Als die Sonne am zweiten Tag ihren Höchststand erreicht hatte, wollte ich nur noch eines: Dass es ihm besser ging.

Doch wollte ich dies auch um jeden Preis? Wollte ich, dass er Menschenblut zu sich nahm? Mein emotionales, hitzköpfiges und unbeherrschtes Herz schrie mir ein lautes Ja entgegen, während meine Seele und mein Kopf sich schwer taten.

Allein die Fleischzunahme von Tieren sprach gegen alles, was ich als harmonieliebende, Umwelt schützende Neyin vertrat. Gegen alles, was mir seit jeher beigebracht wurde, was mir eingeflößt worden war, seitdem ich die Akademie meiner Artgenossen in jungen Jahren betreten hatte. Es war bereits eine Herausforderung gewesen, mich an den Verzehr von gebratenem und rohem Fleisch in meinem Umfeld zu gewöhnen. An der Zunahme von Tierblut nagte meine Seele noch immer. Allein die Sorge um Brax und der Wunsch, ihm zu helfen hatten dazu geführt, dass ich dazu in der Lage gewesen war, es ihm zu geben.

Aber die Zunahme von Menschenblut...das war noch einmal etwas ganz anderes.

Ein Teil meiner Vorfahren waren menschlich gewesen. Sie waren der Grund, warum ich eine Halbnymphe war, eine Neyin. Damals, als es noch nicht das größte Ziel der Menschheit gewesen war, die Natur zu zerstören, um möglichst viel Gewinn und Profit zu machen.

Ich erinnerte mich an die Worte Adriennes, der Wächterin, die uns besucht hatte. Es fühlte sich an, als wären Jahre vergangen, seitdem ich ihrer Erzählung gelauscht hatte, in der sie uns damit konfrontiert hatte, dass die Kraft der Nereiden manchmal dazu führte, dass Menschen starben.

Aber dadurch schützten wir die Natur und verteidigten die wenigen Lebensräume, die wir noch hatten. Es war keine Absicht. Wir taten es nicht nur für uns, sondern für die Umwelt. Die Layphen jedoch entführten die Menschen, um ihr Volk zu erhalten. Sie taten es nicht aus Wohlwollen, sondern aus Egoismus.

Aber taten wir dies denn nicht auch? Es war doch nicht unser recht, uns besser zu fühlen, nur weil unser Leben an die Natur gekettet war und wir nicht nur uns, sondern auch die Umwelt schützten.

Und ich wollte doch nicht wirklich, dass Brax langsam zugrunde ging, nur weil ich mich nicht dazu überwinden konnte, meine Ansicht bezüglich der Zunahme von Menschenblut zu ändern. Es zumindest ein einziges Mal zu tun, bis es ihm besser ging. Immerhin wurde dabei kein Mensch getötet, so wie es durch uns und unseren Schutz der Natur geschah. Wenn unsere Wellen Schiffe und ihre Insassen verschlangen.

Die Gedanken fuhren in meinem Kopf Achterbahn.

Mehr unterbewusst als bewusst trugen mich meine Schritte zu Brax' Krankenzimmer. Leise öffnete ich die Tür. Cyrion saß auf einem Stuhl neben dem Bett des vergifteten Layphen. Er hatte seinen Kopf in die Hände gestützt, sodass nur noch ein Teil seiner Nase und seiner Augenpartie zu sehen war. Die Schatten, die auf sein Gesicht fielen, betonten die dunklen Ringe unter seinen geschlossenen Lidern. Er sah unheimlich müde aus und ich war mir sicher, dass er ähnlich wie ich seit zweieinhalb Tagen keine Ruhe mehr gefunden hatte. Mein Eintreten hatte er nicht bemerkt, ruhige Atemzüge verrieten mir, dass sich die Erschöpfung seines wachen Geistes bemächtigt hatte – selbst in dieser unbequemen Position.

Nymphenkuss Where stories live. Discover now