Kapitel 48 - Kindheitserinnerungen

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"Ja. Wir haben damals hier in der Nähe gewohnt, vielleicht höchstens eine Viertelstunde entfernt. Als unsere Eltern dann mal ihre Ruhe haben wollten, sind wir halt ein bisschen herumgegangen und haben dabei diesen Ort hier gefunden. Und dann sind wir hier immer hingekommen. Unsere Eltern kannten das hier nicht. Es war so der Ort 'für uns', wenn wir unsere Ruhe haben wollten."

Ich nickte. "Wart ihr hier öfter? Also insgesamt auf Grand Cayman?", fragte ich dann, da dies ebenfalls eine Frage war, die mir auf der Zunge lag.

"Ja. Jedes Jahr. Immer in den Sommer- und Winterferien. Unsere Eltern hatten dieses Haus gekauft. Und immer wieder waren wir hier. Es hatte sich hier nie verändert. Auch jetzt nicht, obwohl ich hier seit 5 Jahren nicht mehr war."

Ein trauriger Blick legte sich auf Justin's Gesicht. Ich bekam immer mehr das Gefühl, dass hier irgendetwas schlimmes oder seltsames passiert war.

"Wie alt ist deine Schwester?"

Justin antwortete nicht. Aber ich wollte auch nichts sagen. Er hatte meine Frage gehört, er schien nur nicht sagen zu wollen, was denn nun los war. Ich konnte das verstehen und sagte deswegen auch nichts mehr.

"Sie wäre jetzt 18. So alt wie du."

Tränen bildeten sich in meinen Augen. Sie war tot. Ich lag mit meiner Vermutung richtig, auch wenn ich nicht wusste, was vorgefallen war.

"Was ist passiert?"

"Ich war 16 und es waren wieder Sommerferien. Ein letztes mal wollte ich noch mit meinen Eltern in den urlaub fahren, bevor ich es selber tun würde. April war 13."

Aufmerksam hörte ich ihm zu. Ich wollte wissen, was er erlebt hatte, und wie er über die ganze Sache dachte.

"Was ist dann passiert?"

"Es war ein Unfall. Wir waren wieder hier, nur dass April vorausgerannt war. Frag mich nicht warum, aber es war so.
Und dann, als ich 5 Minuten später ankam, war sie weg."

Mittlerweile kullerten Tränen über meine Wangen, die einfach nicht aufhören wollten, aus meinen Augen zu laufen. Selbst, wenn ich noch nicht genau wusste, was passiert war, war es einfach nur schrecklich. Schrecklich für die Eltern, schrecklich für Justin.

Ich stellte mir gerade vor, wie der 16 jährige Justin hier, an diesem Ort gestanden hatte, während er nach seiner Schwester suchte. Warum musste er das miterleben?

"Was war passiert?", fragte ich leise, um mir ein Schluchzen zu unterdrücken. Ich wollte nicht weinen. Ich kannte April doch gar nicht, und außerdem war es für Justin wohl schlimm genug, damit fertig zu werden. Das sah ich seinem Gesicht an.

"Ich hab sie halt weitergesucht. Und auf einmal hab ich Ihre Leiche auf dem Wasser schwimmen sehen."

"Oh Gott.", schluchzte ich überwältigt von den schlimmen Informationen, die ich gerade bekam.

Justin drehte seinen Kopf, und schaute mir nun direkt in meine geröteten Augen.

Auch in seinen, sonst so schönen Braunen Augen sah ich Tränen. Allerdings kamen sie nicht raus. Das schöne Braun, war vollkommen in Trauer getaucht.

Mir tat es so unendlich Leid, dass er so etwas ertragen musste.

"Dann hab ich versucht, sie aus dem Wasser zu ziehen, und hab unsere Eltern angerufen. Aber hat nicht viel gebracht."

"Das tut mir so Leid.", schluchzte ich und legte meinen Arm um ihn. Ich wollte ihm zeigen, dass er, auch wenn ich gerade Schwäche zeigte, er mir sie auch zeigen konnte.

"Die Polizei meinte, es sein ein Unfall gewesen. Dass sie ausgerutscht sei."

"Und was glaubst du?"

"Ich hab keine Ahnung."

Was sollte sonst passiert sein? Dachte er, dass sie ermordet wurde? Oder dass sie vielleicht irgendwie Selbstmord begangen hat?

"Man kann ja nicht ganz sicher sagen, was da passiert ist, und vor allem wie. Von daher bleibt es für mich immer offen. Aber eins steht fest, wäre ich ein bisschen schneller gegangen, würde sie jetzt noch leben."

Nein, nein, nein. Er durfte sich nicht selbst dafür die Schuld geben. Er konnte da doch nichts für.

"Justin, gib dir dafür nicht die Schuld. Was hättest du tun sollen? Du konntest das doch nicht ahnen."

Justin schaute mit bitterem Blick auf das Meer hinaus, was einen ein wenig beruhigte. Aber ich war alles andere als beruhigt. Er trug so viel Schuld in sich, die er sich gar nicht zu machen brauchte.

"Das war dann auch der Grund, warum ich in dieser ganzen Scheiße gelandet bin."

Ich war froh, dass Justin von sich aus weiterredete. Er vertraute mir. In der konnte es mir erzählen. Und außerdem wollte ich nicht so aufdringlich sein. Es war so schlimm, eine wichtige Person im Leben zu verlieren. Und seine Schwester schien ihm wohl wichtig zu sein.

Allerdings kam ich nicht ganz mit. Wie war er 'hier' gelandet? Was meinte er damit?

Justin bemerkte wohl, dass ich nicht ganz verstand was er meinte, denn er sprach schon weiter.

"Ich war so abgefuckt. Eigentlich bin ich das ja auch immer noch."

Eigentlich wollte ich ihn unterbrechen und ihm sagen, dass das nicht stimmte, aber ich konnte nicht. Zu sehr war ich von dieser tragischen Geschichte abgelenkt.

"Ich hab dann Daniel und Jaden kennengelernt. Sie waren in dem selben Boxclub, in dem ich seit dem hingegangen bin. William hat sie gezwungen dahin zu gehen, weil sie halt später mit ihm in der Mafia arbeiten sollten. Und dann bin ich da halt mit reingerutscht."

Jetzt ergab das einen Sinn. Ich hatte mich schon länger gefragt, wo sich die drei kennengelernt hatten.

"Justin, du bist nicht abgefuckt. Warum sagst du sowas?"

"Weil es so ist. Du hättest mich damals mal sehen sollen..."

Ich blieb still. Ich konnte mit ihm noch stundenlang diskutieren. Er würde bei seiner Meinung bleiben. Aber irgendwann würde ich ihm zeigen, dass er alles andere als 'abgefuckt' war.

Out of ControlWo Geschichten leben. Entdecke jetzt