Kapitel 56 - Wahrheit (Part II)

987 40 0
                                    

Zum zweiten Mal am heutigen Tag stand ich vor einer Haustür und kämpfte mit mir selbst, ob und wann ich mich trauen würde, zu klingeln. Ich war noch nervöser, als gerade eben und es wurde auch nicht gerade besser.

Auch, wenn Elizabeth meinte, dass sie mich sehen wollten, und sie sich sicher freuten, war ich mir da eher unsicher. Ich kannte meine Eltern. Ok, das dachte ich zumindest. Mittlerweile sollte ich alles hinterfragen, was etwas mit ihnen zu tun hatte.

Ohne weiter zu zögern drückte ich einmal kurz auf die Klingel. Eigentlich wollte ich mir noch überlegen, was ich sagen wollte, aber mir blieb nicht viel Zeit, denn die Tür ging direkt auf.

Dort stand der Mann, den ich 18 verdammte Jahre für meinen leiblichen Vater gehalten hatte. Der Typ, den ich immer als meinen Vater angesehen und geliebt hatte.

Und jetzt, wenn ich ihn sah, spürte ich nichts. Einfach rein gar nichts. Kein Hass und Abscheu, aber auch keine Freude oder Liebe. Nichts war da.

Wie ich damit umgehen sollte, wusste ich nicht, aber ich würde mir wohl erst anhören, was sie zu sagen hatten. Vielleicht würde irgendein Gefühl doch wieder zu spüren sein.

"Evelyn.", sagte er laut, wahrscheinlich um damit auch die Aufmerksamkeit meiner Mutter auf mich zu ziehen.

Und genau so war es auch. plötzlich standen sie beide an der Tür. Beide Gesichtsausdrücke waren erstaunt und so wie es aussah, wollten sie mich beide umarmen.

Ich wollte das ganz und gar nicht. Denn auch meiner Mutter gegenüber verspürte ich kein einziges Gefühl. Es war so, als wenn diese Personen komplett fremd wären und ich sie noch nie in meinem Leben gesehen hätte. Dabei hatte ich doch ganze 18 Jahre mit Ihnen verbracht.

Ich fand es traurig, nun so über meine Eltern sprechen zu müssen. Aber was sollte ich denn auch denken? Sie wussten ja wohl, dass ich entführt werden sollte, so wie es schien. Warum hatten sie nichts getan?

Das war Zeichen genug, dafür dass sie mich nicht liebten und ich ihnen egal war.

"Evelyn. Ich hab dich so vermisst.", sagte meine Mutter vollkommen überwältigt und ging ein paar Schritte auf mich zum mich schließlich zu umarmen.

Ich erwiderte nichts, was sie wohl auch merkte, denn relativ schnell ließ sie mich wieder los und ging die paar Schritte zurück, die sie zuvor auf mich zu gemacht hatte. Sie wusste genau, dass ich endlich die Wahrheit hören wollte. Ebenfalls wusste sie genau, dass ich ihr gegenüber misstrauisch war.

"Komm rein.", sagte mein 'Vater', der wohl auch gemerkt hatte, dass ich nicht da war, um Kuchen zu essen und Kaffee zu trinken.

Dieses Haus war in einem ganz anderen Viertel New Yorks und ich hatte es auch noch nie gesehen. Eigentlich hatte ich damit gerechnet, dass mir hier etwas bekannt vorkam, aber so war es nicht. Alles war fremd.

Ich setzte mich auf das Sofa, welches in einem großen Raum, womöglich das Wohnzimmer stand, und wartete darauf, dass meine Eltern anfangen würden zu reden.

"Was möchtest du wissen?", fragte mein bisher gedachter leiblicher Vater. Meine Mutter dagegen war still. Wahrscheinlich war sie etwas erschrocken von meiner kalten Art ihr gegenüber, aber sie erwartete ja wohl nicht, dass ich ihr kreischend um den Hals fiel.

"Alles. Von vorne bis hinten.", sagte ich bestimmt. Ich wollte nicht mehr lange drum herum reden, ich wollte einfach die Wahrheit hören.

Seltsamerweise begann dann meine Mutter, um die Geschichte zu erzählen.

"Ich habe damals William in einer Bar kennengelernt. Ich wusste nicht, was er macht oder als was er arbeitet. Wir waren jung, und haben nicht wirklich bedacht, was alles auf uns zukommen würde. Dann war ich schwanger mit dir, von ihm."

"So weit konnte ich es mir auch denken.", gab ich genervt von mir. Ich weiß, dass ich lieber froh sein sollte, dass sie mir es überhaupt sagten, aber man musste mir die Sachen, die ich schon wusste, nicht zehntausend mal von jemand anderem erzählen lassen.

"Ich wusste damals schon, was William macht. Dass er in der Mafia arbeitet, dass er Menschen tötet. All das wusste ich. Ich war sogar bei einigen schlimmen Situationen dabei, die ich heute lieber vergessen würde, aber sie bleiben mir immer im Kopf. Ich war also eigentlich mit in dem Geschäft. Ich wusste, wann sie was und wie sie es taten."

Da wurde mir eines klar. Sie hatte sich in der selben Position befunden, wie ich gerade. Sie war mit einem Typen der Mafia zusammen, von dem sie ein Kind erwartete. Sie wusste, was die Männer taten, hatte gesehen, wie andere umgebracht wurden. Sie hatte genau das erlebt, was ich jetzt erlebte.

"Dann bin ich Hals über Kopf abgehauen. Ich weiß nicht, ob die Hormone verrückt gespielt haben, oder so, weil eigentlich war William, trotz des Geheimnisses, das er hatte, die selbe Person. Er war ja nicht plötzlich anders, verstehst du? Aber irgendwie hat es mich plötzlich total abgeschreckt. Ich hatte auch Angst um dich. Ich wusste einfach nicht, was ich sonst tun sollte."

So langsam konnte ich mir einen Reim daraus bilden. Immer mehr von diesen kleinen Puzzleteilen waren vorhanden und setzten das vollständige Bild zusammen, wobei ein paar Lücken immer noch fehlten.

"Dann habe ich Michael kennengelernt, mich in ihn verliebt und ihn geheiratet. Er wusste von vorne rein, dass du nicht seine leibliche Tochter bist, aber er hat dich von Anfang an wie seine eigene geliebt."

Ich lächelte traurig meinen Vater an, der mich ebenfalls anschaute. Es musste hart für sie gewesen sein. Und irgendwie denke ich, dass ich es genau so gemacht hätte, wenn ich damals an ihrer Stelle gewesen wäre. Und obwohl ich meinen Eltern nicht sauer sein wollte, war da irgendwas, was mich davon abhielt ihnen zu verzeihen. Ich wusste leider nur nicht, was es war. Doch ich wurde nochmal von meiner Mutter unterbrochen.

"Es geht leider noch weiter. Nachdem ich dich dann bekommen hatte, dachte ich, dass endlich alles vorbei sei, und wir zu dritt glücklich werden würden. Aber dann stand eines Tages William vor der Tür. Er hat mir gedroht, dich wegzunehmen."

"Warum? War es ihm nicht egal, dass ich existierte?", fragte ich, da ich es nicht wirklich verstand.

"So wie es aussah, hatte er mich wirklich geliebt und so auch dich. Aber als er dann wohl wusste, dass ich ihn verlassen hatte, entwickelte sich Hass uns gegenüber. Er hasste mich und dich gleich mit."

William war wirklich so, wie ich ihn zuletzt eingeschätzt hatte. Er konnte nett sein, hatte eine weichere Seite, aber wenn man ihn verletzte, oder er etwas nicht mochte, ließ er einen das ganz leicht spüren. Dann entwickelte er sich zu einem Monster. Und ehrlich gesagt war ich froh, dass ich es selbst schon herausgefunden hatte.

Out of ControlWhere stories live. Discover now