Kapitel 4

8.9K 498 47
                                    

Ein Knurren ließ mich hochfahren.

Der Bär? War er wieder da? Wo war ich?

Mein Kopf stieß gegen die niedrige Decke aus Zweigen. Helle Strahlen von Sonnenlicht fielen durch die Öffnung des kleinen Unterschlupfs und wärmten meinen Rücken. Es war früher Morgen und, wie es aussah, ein wunderschöner Morgen. Die Vögel zwitscherten um die Wette, ich hörte das Bächlein gluckern, und kein Bär weit und breit! Auch mein seltsamer Retter war nicht mehr hier und ich fragte mich, ob ich ihn mir nur eingebildet hatte.

Mein Magen knurrte und ich grinste erleichtert. Also das war der Übeltäter gewesen! Während ich meinen Rucksack nach etwas Essbarem durchsuchte, schlüpfte der junge Mann wieder hinein. Wie sollte ich ihn bezeichnen? Als Indianer? Er sah jedenfalls ganz so aus, wie ich mir immer einen vorgestellt hatte. Heute trug er zu meiner Erleichterung auch mehr als gestern. Sein Oberkörper war zwar noch immer nackt, doch zusätzlich zu dem Lendenschurz hatte er Leggings aus weichem Wildleder um die Beine gelegt und Mokassins an den Füßen.

Ich fand meine Wasserflasche und nahm einen Schluck daraus. Dabei spürte ich seinen neugierigen Blick. Er starrte mich nicht offensichtlich an und doch beobachtete er mich genau unter halb gesenkten Lidern. Ich hielt ihm die Plastikflasche hin. Vielleicht hatte er ja auch Durst. Zu meinem Erstaunen betastete er das Material, wie er es bei meinem Regencape getan hatte, voller Erstaunen. Er musste wirklich weitab von jeder Zivilisation gelebt haben, wenn er noch nicht mal Plastik kannte!

Das erinnerte mich daran, dass ich unbedingt wieder in die Zivilisation zurückkehren wollte.

„Kennst du Mount Rushmore?", fragte ich ihn auf Englisch. „Den großen Fels mit den Präsidentenköpfen." Den musste er doch kennen.

Sein Kopf neigte sich ein winziges bisschen zur Seite. Ich seufzte. Er verstand mich tatsächlich nicht.

Dann kam mir ein Einfall. Ich angelte aus meinem Rucksack den Flyer hervor, den wir am Eingang zum Denkmal erhalten hatten. Triumphierend hielt ich ihm das bunte Prospekt unter die Nase und deutete auf die Abbildung. „Mount Rushmore", wiederholte ich langsam und deutlich.

Er zog leicht seine Brauen zusammen, als er sich über das Papier beugte. Dann murmelte er etwas Unverständliches. Es klang beinahe ehrfürchtig. Aber auf das Aufblitzen der Erkenntnis in seinen Augen wartete ich vergeblich. Stattdessen nahm er mir das Faltblatt aus der Hand und studierte es eingehend. Seine braunen Finger waren lang und schlank, wirkten aber dennoch stark.

Ich riss meinen Blick davon los. Das Prospekt benötigte ich nicht mehr, sollte er es behalten. Aber wenn ich nicht bald einen Weg finden würde, mit ihm zu reden ...

Ich kroch aus dem Unterschlupf. Draußen richtete ich mich auf. Dabei bemerkte ich wieder einen stechenden Schmerz in meinem rechten Fuß und verzog das Gesicht. Mist! Es war noch nicht besser geworden. Egal, ich musste weg hier.

Er war mir gefolgt und ich deutete mit wilden Gesten in die ungefähre Richtung, aus der wir meiner Ansicht nach gestern Nacht gekommen waren. Es war auf jeden Fall hangaufwärts gewesen. Ich hob meine Hände wie Krallen vor mir hoch und brummte tief und kehlig, um den Bären nachzuahmen. Ich fand, es klang ziemlich furchteinflößend, aber zu meiner Irritation sah ich, wie er belustigt eine Braue hochzog.

Ich schnaufte frustriert. Dann blickte ich mich um und hob ein ein kleines Stöckchen vom Waldboden auf. Ich kniete mich auf den Boden, scharrte die Kiefernnadeln weg, um so eine Stelle von relativ glatter Erde zum Zeichnen zu haben. Darin ritzte ich etwas ein, das einen Bären darstellen sollte. Zur Sicherheit knurrte ich noch einmal, als ich mit dem Stock darauf deutete, und sah ihn dabei herausfordernd an. Er hockte neben mir, neigte seinen Kopf leicht nach vorn und es wirkte, als würde er es kapieren. Ja, endlich!

Plötzlich Indianer - Eine ZeitreisegeschichteWhere stories live. Discover now