Kapitel 25

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Jemand zerrte er mich unsanft am Arm hoch. Ich konnte mich nicht wehren. „War das der Einzige?", zischte Stuart in mein Ohr. Er schüttelte mich, als ich nicht antwortete, aber mein Gehirn konnte die Frage nicht verarbeiten.

„Der ist hin", sagte ein anderer, der neben uns den Abhang hinunterblickte.

Ich konnte es nicht glauben.

„Wir verschwinden besser von hier, bevor noch mehr Rothäute aufkreuzen", sagte Stuart.

„Was machen wir jetzt mit der Kleinen? Tolle Idee hattet ihr da. Sie hat uns die Indianer eher auf den Hals gehetzt als vom Leib gehalten."

„Und Jim hat dafür gebüßt", sagte der Dritte grimmig, nachdem er den Körper des Gefallenen untersucht hatte. „Er ist tot."

Ich hörte ihre Unterhaltung wie aus weiter Ferne, durch einen Nebel hindurch, als würde ich in einer Wolke stehen, die alle Geräusche verschluckte.

„Ich hab keine Lust, mein Leben in dieser gottverdammten Wildnis zu verlieren", grummelte einer.

„Sei kein Weichei. Wenn wir finden, wofür wir hier sind, dann können wir unser Leben wenigstens genießen."

„Nein. Ich hab die Nase voll. Ist jetzt eh zu spät. Der Winter bricht bald an. Vielleicht kommen noch schlimmere Stürme als der hier. Außerdem müssen wir Harry zu einem Doktor bringen." Der Mann, der in die Feuerstelle gefallen war, war offenbar noch am Leben. Sie kümmerten sich um den Pfeil, der in seiner Schulter steckte.

Seltsam, ich spürte überhaupt keine Anteilnahme an dem Geschehen. War das gemeint, wenn man sagte, man stehe neben sich? Genauso fühlte es sich an. Als hätte sich meine Seele ein Stück von meinem Körper gelöst und würde nur noch alles von oben betrachten. Wenigstens spürte ich keinen Schmerz, keine Trauer ... nichts. Ich ließ es einfach über mich ergehen. Wie sie ihre Sachen zusammenpackten. Wie Stuart mir die Hände vor dem Körper zusammenband und mich auf eins der Maultiere hievte, die sie mit sich führten. Der Verwundete, Harry, saß vornübergebeugt und schwankend auf einem anderen Maultier, und der Tote wurde über den Rücken eines weiteren Tiers geschnallt. Stuart führte mein Maultier, als sie den Abstieg durch den Wald begannen. Die Wolkendecke brach auf, sodass das vom Schnee reflektierte Sternenlicht unsere Umgebung erhellte.

Am Fuß des Hangs bogen wir nach rechts ab — und dann sah ich schräg vor uns, halb verborgen hinter dem Stamm einer Fichte und halb von Schnee bedeckt, einen Körper liegen.

Mit einem Mal durchflutete mich eine Schockwelle, die von meiner Brust aus bis in meine Finger- und Zehenspitzen strömte, und mit einem Ruck schien ich wieder in meinem Körper anzukommen. Ohne nachzudenken, rutschte ich vom Maultier und rannte zu der Gestalt im Schnee, zu schnell, als dass Stuart reagieren konnte.

„Ohitika", wollte ich rufen, aber es kam nur ein Flüstern heraus.

Ich schlitterte den letzten Meter auf den Knien durch den Schnee, dann stockte ich. Er lag auf dem Rücken, die Beine fielen zu einer Seite, die Arme waren vom Körper abgestreckt. Sein Gesicht im milden Sternenlicht wirkte so friedlich und sanft, als würde er schlafen. Aber dann entdeckte ich den dunklen Fleck auf seiner rechten Schläfe ... Blut verklebte sein Haar und lief als dünnes Rinnsal hinunter in den Schnee. Und auf seiner Brust, oberhalb des Herzens, färbte ein noch größerer Fleck das Leder seiner Kleidung. Ich tastete nach seinem Handgelenk und wollte den Puls fühlen, doch meine Finger zitterten zu sehr.

Hinter mir näherten sich stapfende Schritte. Eine Hand riss mich nach oben und weg von ihm, zerrte mich zurück zu den Maultieren. Ich schrie und kämpfte, wollte mich losreißen, zu ihm zurücklaufen. Zwei Arme umschlangen meinen Oberkörper wie ein Schraubstock und unterbanden jede Bewegung.

„Jetzt halt endlich still. Dein Indianerfreund ist hinüber, kapierst du?", schimpfte Stuart. „Wir bringen dich hier weg."

Nein, nein, nein, schrie ich innerlich, aber kein Ton drang mehr aus meiner Kehle. Er war nicht tot! Er konnte nicht tot sein. Ich musste zu ihm. Ihm helfen.

Sie banden mir die Füße zusammen und schmissen mich wie den toten Jim bäuchlings über den Rücken des Maultiers, sodass ich meine Beine auf einer und mein Kopf auf der anderen Seite des Tiers nach unten hingen. Das Blut floss mir in den Kopf und bei dem Druck auf meinem Bauch wurde mir übel. Ich übergab mich, hustend und würgend. Meine Kehle brannte wie Feuer und mein Magen verkrampfte sich erneut.

Als es endlich vorbei war, hing ich wie ein schlaffer Sack über dem Rücken des Tiers. Ich fühlte mich ausgelaugt und mir tat alles weh. Ich starrte in den dunklen Schnee unter mir, der von den Hufen aufgeworfen wurde. Tränen tropften aus meinen Augen und verloren sich in den kleinen Hügeln und Tälern. Mein Blick verschwamm und statt des Wegs sah ich wieder Ohitikas leblose Form vor mir, sein stilles Gesicht, in dem sich keine Regung mehr abgezeichnet hatte. Seine eiskalte Hand, die ich nur so kurz in meiner gespürt hatte. Die beiden hässlichen Blutflecken, auf seiner Schläfe und seiner Brust.

Meine Kehle schnürte sich zu. Ich hatte ihn zurückgelassen. Er würde im Schnee liegen und verbluten, wenn er ... wenn er nicht schon ... Ich konnte den Gedanken nicht zu Ende denken.

Und jetzt verschleppten sie mich, an einen Ort weit weg von dem Zeltdorf, das zu meinem  Zuhause geworden war. Ich wusste nicht, wo es hinging und wie ich weiterleben sollte.


***Am Sonntag geht es weiter, bleibt dran. :)***

Plötzlich Indianer - Eine ZeitreisegeschichteWhere stories live. Discover now