Kapitel 19

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Der Morgen brachte den ersten Frost mit sich. Die herabgefallenen Blätter waren von einem feinen weiß-glitzernden Netz überzogen, als ich die Felle und Decken unserer Schlaflager ausschüttelte. Bei dem Gedanken an den bevorstehenden Tag lächelte ich. Wenn alles glatt lief, würde ich mir heute ein Pferd aussuchen dürfen. Ich hatte die Herde schon gestern von Weitem gesehen — nicht viel mehr als eine Ansammlung von dunklen Punkten in einem entfernten Tal, vielleicht hundert Tiere. Die Männer würden sie in eine Schlucht zwischen steil aufragenden Felswänden jagen, die am Ende zusammenliefen und so eine natürliche Sackgasse formten, aus der die Mustangs nicht entkommen konnten. Die Krieger würden dann mit dem Lasso die besten Tiere herausfangen. Und ich durfte zusehen.

Wihinapa war daheim geblieben war. Sie meinte, der Braune würde ihr reichen, sie bräuchte nicht noch ein Pferd, weil sie sowieso nicht so gern ritt. Da wir ein paar Tage in der Nähe der Mustangherde verbringen würden, hatte Ohitika sein kleines Jagdzelt mitgenommen, in dem wir schliefen. Es war die erste Nacht gewesen, die ich allein mit ihm im Tipi verbracht hatte. Erst war ich deswegen nervös gewesen, aber wir waren rasch schlafen gegangen, um für den heutigen Tag frisch und ausgeruht zu sein.

Auch unsere Mustangs mussten gut ausgeruht sein, denn sie würden mit ihren Reitern auf dem Rücken die wilden Pferde so lange verfolgen müssen, bis diese erschöpft genug waren und sich in die Falle treiben ließen. Unsere Tipis standen auf einem Plateau, dessen steil abfallende Felswand eine der natürlichen Begrenzungen der Schlucht bildete, in die die Mustangs gejagt werden sollten. Ich würde also von oben eine wunderbare Aussicht haben.

Ohitika bereitete seinen Schecken vor und ritt bald darauf mit den anderen Männern los. Ich blieb mit einigen Frauen zurück und erledigte die Hausarbeiten. Zwischendurch jedoch eilte ich immer wieder zu der Klippe, um Ausschau zu halten. Der Tag zog sich immer mehr in die Länge, die Sonne schien heute besonders langsam zu wandern. Es konnte sein, dass sie die Mustangs erst einige Tage lang verfolgen mussten, bevor sich das Leittier in die Irre führen ließ. „Es kommt darauf an, wie schlau der Leithengst oder die Stute ist", hatte Ohitika erklärt. „Und wie gut wir uns dabei anstellen, sie in die richtige Richtung zu treiben."

Ich hatte nichts mehr zu tun und setzte mich in die Nähe der Klippe, eine Decke um die Schulter gelegt, und wartete. Die Sonne sank stetig tiefer. Vor dem glühenden Feuerball schwebte die majestätische Silhouette eines Adlers über der Prärie. Er zog seine weiten, eleganten Kreise, auf der Suche nach einem unbedachten Beutetier. Plötzlich aber drehte er ab und verschwand mit einem hallenden Kreischen auf der gegenüberliegenden Seite der Schlucht, wo sich vermutlich sein Horst befand. Ein paar Augenblicke später konnte auch ich erkennen, was ihn aufgeschreckt hatte.

Da kamen sie, noch weit entfernt, aber eindeutig die Mustangherde. Sie war bei Weitem nicht so riesig und beeindruckend wie die Büffelherde, aber mindestens genauso schnell. An den Seiten flogen einzelne Punkte entlang, die vermutlich unsere Reiter darstellten. Sie hielten direkt auf den Eingang in den Talkessel zu. Er war zu Anfang weit und verengte sich dann immer mehr. Kurz vor Ende, direkt unter meinem Standort, hatten die Männer gestern aus jungen Baumstämmen und Lederbändern einen behelfsmäßigen Zaun gebaut, der eine breite Öffnung hatte. Zwei Männer standen an jeder Seite dieser Öffnung, getarnt durch Büsche und völlig reglos, und warteten auf die Mustangherde, um hinter ihnen das Tor zu schließen.

Ich hielt die Luft an, während die Herde, noch ohne etwas zu ahnen, auf diese Falle zuraste, verfolgt von den Reitern, die immer wieder gellende Schreie ausstießen. Ganz vorne lief ein Falbe mit dunklem Schweif und Mähne und einem dunklen Streifen auf dem Rücken, das Leittier. Kurz bevor er den Eingang zum Korral erreichte, schien er langsamer zu werden. Er wieherte laut und stockte, doch die Herde hinter ihm drängte unablässig nach und schloss ihn von hinten ein. Falls er anhalten oder umkehren wollte, gelang es ihm nicht mehr. Nach und nach, einer nach dem anderen, rannten alle Mustangs in die Umzäunung. Als auch der letzte Nachzügler der Herde drinnen war, sprangen die Männer aus ihren Verstecken und schlossen unter triumphierenden Schreien das Tor.

Plötzlich Indianer - Eine ZeitreisegeschichteDonde viven las historias. Descúbrelo ahora