Kapitel 28

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Weihnachten. Ich hätte nicht gedacht, dass ich das noch einmal erleben würde. Die Lakota feierten natürlich kein Weihnachten, aber hier im Fort wurde das Fest begangen. Mrs. Lewis hatte seit Tagen mit dem Koch zusammen das Festmahl geplant und vorbereitet. Es wurde gebacken und vorgekocht, was ging. Auch ich half dabei mit, obwohl mir nicht nach Feiern zumute war.

Der Himmel spannte sich mit trüben, grauen Wolken über dem Fort, als ich — eingewickelt in ein dickes Wolltuch — neben Mrs. Lewis über den Hof eilte. Seit dem Blizzard vor mehreren Wochen hatte es nicht wieder geschneit. Wir waren unterwegs zu dem Gebäude, in dem die Soldaten ihr Essen einnahmen und das heute für alle zur Feier dienen sollte. Im Inneren brannten mehrere Kerzen und zwei Petroleumlampen. Die Soldaten hatten eine kleine Fichte gefällt und in einer Ecke aufgestellt. Sie war nicht geschmückt, aber sie verbreitete ein frisches Nadelaroma im Raum, das sich mit den Essensdüften vermischte. Mehrere der grob gezimmerte Tische waren zusammengeschoben worden und bildeten eine lange Tafel, die wir am Vormittag mit Bettlaken anstelle von Tischdecken belegt hatten. Auf der Tafel türmten sich bereits die Speisen: Wildbraten, Bratkartoffeln mit Speck, Tomaten aus der Dose, die Mrs. Lewis gewürzt und in Schüsseln angerichtet hatte, Cranberrysoße, Kürbiskuchen, Kuchen mit getrockneten Äpfeln, und vieles mehr.

Die Soldaten durften heute so viel Whiskey trinken, wie sie wollten, das hatte der Major bestimmt. Aber sie würden sich wohl zurückhalten, solange ich und Mrs. Lewis unter ihnen waren. Wir setzten uns an ein Ende der Tafel, wo der Major bereits am Kopfende stand und wartete. Nach und nach trudelten die Soldaten ein, alle außer den Wachhabenden. Auch die Gruppe der Goldsucher fehlte, Gott sei Dank. Sie waren längst weitergezogen, um wo auch immer ihr Glück zu versuchen. Als alle Platz genommen hatten, schlug der Major mit einem Löffel gegen seinen Zinnbecher. Alle verstummten und richteten ihre Blicke auf ihn.

„Männer, ich will keine lange Rede schwingen, denn das Essen, das meine wundervolle Frau und unser Koch für uns vorbereitet haben, wartet bereits. Also, haut rein. Merry Christmas!"

Die Männer klopften auf den Tisch und machten sich dann über die Speisen her. Stimmengemurmel erhob sich im Raum und die Schüsseln leerten sich in wahnsinnigem Tempo. Ich kostete nur hier und da etwas, aber meine Brust war zu eng, als dass ich es wirklich genießen konnte. Ich dachte an meine Familie zu Hause. Feierten sie jetzt auch Heiligabend? Natürlich nicht jetzt. Jetzt waren sie ja noch nicht einmal am Leben ... Ich seufzte. Das war alles so kompliziert.

Die Stimmung im Raum wurde immer ausgelassener, je mehr Whiskey die Soldaten verdrückten, und ich hielt es nicht länger aus. Mrs. Lewis wollte mir ein Stück Kürbiskuchen anbieten, doch ich schüttelte den Kopf. „Ich muss kurz an die frische Luft", murmelte ich zu ihr. Sie nickte verständnisvoll und nahm vermutlich an, dass mir der rauchgeschwängerte Raum Kopfschmerzen bereitete.

Ich wickelte mir mein Tuch um die Schultern und trat aus der Tür. Ein kalter Luftzug fuhr mir ins Gesicht und mit ihm landeten feuchte Topfen auf meiner Haut. Regnete es? Der Hof war stockdunkel, außer dort, wo ein milder Lichtschein aus den Fenstern drang. Und in diesem Licht sah ich Flocken tanzen. Es schneite.

Ich schloss die Tür hinter mir und wanderte über den stillen Hof. Unter meinen Füßen war der Boden hart und nur mit einer sehr dünnen Schneeschicht bedeckt, die wohl im Laufe der Nacht noch weiter anwachsen würde. Schnee zu Heiligabend. Das, was wir uns in Deutschland immer wünschten und doch so selten bekamen. Ausgerechnet hier, so weit weg von zu Hause und von jedem, der mir etwas bedeutete, erfüllte sich jetzt dieser Wunsch. Kalte Tränen rannen über meine Wangen und vermischten sich mit dem darauf tauenden Schnee.

Ich lief bis zum Palisadenzaun an der Ostseite und lehnte mich gegen die starke, übermannshohe Befestigung, die keinen Menschen so einfach durchließ — es sei denn, man konnte klettern wie ein Eichhörnchen oder fliegen wie ein Vogel. Es hatte sich noch keine Gelegenheit zur Flucht ergeben. Mrs. Lewis hielt es nicht für nötig, sich außerhalb des schützenden Zauns zu begeben. Aber irgendetwas musste ich mir überlegen.

Plötzlich Indianer - Eine ZeitreisegeschichteWhere stories live. Discover now