Kapitel 15

7K 432 51
                                    

Nachdem Ohitika mich wieder beim Lager abgesetzt hatte, ging ich zunächst zum Bach und wusch mir das Gesicht. Das kühle, klare Wasser tat meiner erhitzten Haut gut. Ich fühlte mich gleich frischer, aber der Druck auf meiner Brust war noch nicht verschwunden. Schuldgefühle wegen der toten Fuchsstute plagten mich, doch da war auch noch etwas anderes. Das Wissen über die Zukunft der Lakota lastete auf meiner Seele und ich wusste nicht, ob ich mit Ohitika darüber sprechen sollte — ob ich es durfte — um seine Entscheidung zu beeinflussen. Zwischen den Zelten standen mehrere junge Männer in Grüppchen zusammen und diskutierten, wohl über die geplante Expedition. Wenn ich etwas tat, dann musste es bald geschehen.

Ich beschloss, jemanden um Rat zu fragen, dem ich vertraute, und schlenderte zum Zelt von Tatanka Wakon. Ich war schon seit einigen Wochen nicht mehr bei ihm gewesen — nicht, seit ich mich einigermaßen selbst auf Lakota verständigen konnte. Doch ich hatte es vermisst, wie er mit Weisheit und Witz die Lebensweise seines Volkes erklärt hatte. Einmal hatte er mich auch sanft zurechtgewiesen. Das war nach dem Pferderennen gewesen, als ich es gewagt hatte, mich einzumischen und den Häuptling ungefragt anzusprechen. Aber ich hatte nie das Gefühl, dass er über mich urteilte. Ich konnte nur Güte und Verständnis von ihm spüren.

Tatanka Wakon saß vor seinem Tipi im Schneidersitz und bemalte einen Schild aus Büffelhaut mit einem angespitzten Stock, den er in eine Schale mit Farbe tauchte. Eine Büffellederdecke hing über einer Schulter, während die andere frei blieb und seinen sehnigen, knochigen Arm enthüllte.

„Großvater", sprach ich ihn respektvoll an. „Ich brauche deinen Rat." Es war vielleicht nicht höflich, so mit der Tür ins Haus zu fallen, aber ich glaubte nicht, dass er mir das übel nahm.

Seine Augen blinzelten gegen die Sonne zu mir herauf, wodurch sich die Fältchen noch mehr vertieften. Er machte eine einladende Geste mit seinem freien Arm. „Setz dich, meine Tochter."

Die Anrede ‚Tochter' erzeugte ein warmes Gefühl in meiner Brust. Ich blickte mich unschlüssig um. Hier, in der Mitte des Zeltdorfes, war nicht gerade der Ort für ein privates Gespräch. Kinder spielten in der Nähe mit Murmeln und den geschnitzten Holzfiguren des bärtigen Tom. Frauen hängten Fleischstreifen über aufgespannte Leinen, um sie in der Sonne zu trocknen, oder verrichteten andere Arbeiten. Doch keiner schien wirklich auf uns zu achten, also würde es schon gehen.

Ich beobachtete den Medizinmann eine Weile dabei, wie die Konturen eines Adlers gekonnt in die Mitte des runden Schilds malte.

„Tatanka Wakon", begann ich dann und überlegte mir meine Worte sorgfältig. „Wenn du Geheimnisse hättest, die kein anderer kennt ... woher weißt du, ob du sie für dich behalten oder teilen solltest?"

Tatanka Wakons Gesichtsausdruck veränderte sich nicht, doch er legte seine Arbeit nieder und überlegte. Es war offensichtlich, dass er meine Frage ernst nahm, auch wenn ich nur ein Mädchen war. „Geheimnisse welcher Art?", fragte er schließlich.

„Geheimnisse über die Zukunft. Wissen über etwas, was noch nicht passiert ist ...", antwortete ich zögernd.

Er nickte. „Manchmal schickt Wakan Tanka, der Große Geist, mir Visionen und Träume über die Zukunft", sagte er langsam. „Deshalb kommen die Menschen zu mir; um zu erfahren, was die Zukunft für sie bereithält. Vor vielen Wintern, als ich noch ein junger Mann war und kaum die Ausbildung zum Geheimnismann abgeschlossen hatte, suchte mich eine Mutter auf. Sie wollte wissen, ob ihr Sohn, der auf den Kriegspfad gegen die Crow ziehen wollte, gesund zu ihr zurückkehren würde. Sie versprach mir das beste Pferd ihres Mannes, wenn ich ihr die Zukunft voraussagen könnte. Also führte ich die Rituale durch. Ich fastete, betete und trommelte tagelang, bis ich schließlich einen Traum hatte. Darin sah ich die ganze Gruppe der Krieger, darunter auch ihren Sohn, wie sie bleich und still auf der Erde lagen."

Plötzlich Indianer - Eine ZeitreisegeschichteWhere stories live. Discover now