Kapitel 9

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Ich saß im Schatten des Tipis und beobachtete die kleinen Jungen, die mit ihren Bögen schießen übten. Dafür hatten sie einen runden Büffellederschild an einen Baum gehängt, auf den sie nacheinander anlegten. Es schien, dass jeder seine Entfernung selbst wählen konnte. Die älteren versuchten sich gegenseitig darin zu überbieten, wie gut sie auch noch aus über fünfzig Metern Entfernung treffen konnten. Ich blinzelte dem Pfeil hinterher, der mit einem Sirren durch die Luft sauste und genau in der Mitte des Schilds stecken blieb. Das war der Sohn des Häuptlings Mazzukata gewesen, wie ich inzwischen wusste. Knapp zwölf Jahre alt, und schon jetzt ein treffsicherer Schütze.

Ich wandte mich wieder dem Buch auf meinem Schoß zu, das ich mittlerweile fast ausgelesen hatte. Was für ein unglaublicher Glücksfall, dass ich es mir kurz vor meinem mysteriösen Sprung hierher gekauft hatte. Ohne es wäre ich aufgeschmissen gewesen, denn es hatte mir so viele Kleinigkeiten erklärt, die ich sonst nicht verstanden hätte. Und es bewahrte mich vor einigen Fettnäpfchen, in die ich vielleicht getreten wäre.

In den letzten zwei Wochen - ich hatte die Tage mitgezählt, um nicht den Überblick zu verlieren - hatte ich täglich mit Ohitika und Tatanka Wakon zusammen gesessen und ihnen Englisch beigebracht, so gut ich es eben konnte. Im Gegenzug lernte ich einige Worte Lakota. Ich weiß nicht, wie ich mich in ihren Augen anstellte, aber Ohitika hatte eindeutig eine schnelle Auffassungsgabe. Manchmal konnten wir uns bereits mit rudimentären Sätzen verständigen. Ich konnte in seinen Augen sehen, dass er dennoch unzufrieden mit seinen Fortschritten war. Am liebsten hätte er mich wahrscheinlich sofort über alles ausgequetscht, was ich wusste.

Ein länglicher Schatten tauchte in meinem Blickfeld auf. Ich wandte mich um, obwohl ich schon wusste, wer da stand. Mittlerweile erstaunte es mich nicht mehr, dass ich sein Näherkommen nicht gehört hatte. Er blieb eine Weile hinter mir stehen und schaute wohl auch den Jungen zu, die immer noch fleißig übten. Manchmal blickte eines der Kinder nach dem Schuss zu ihm hinüber, als wollten sie seine Einschätzung sehen. Offenbar mochten sie ihn. Ohitikas Schatten nickte, als der Sohn des Häuptlings einen weiteren Treffer im Zentrum landete, und der Junge strahlte.

Dann setzte sich Ohitika neben mir im Schneidersitz auf den Boden und zückte den kleinen, angespitzten Stock, den wir immer benutzten, um Buchstaben in die Erde zu kratzen. Er begann mit seinem ABC und ich nickte anerkennend.

„Ohitika — was bedeutet dein Name?" Ich stückelte mir mühsam die Worte auf Lakota zusammen, während er konzentriert zeichnete. Das Buch half mir ein wenig, weil es einige Beispielsätze enthielt.

Er sah auf und legte seine rechte Faust auf sein Herz.

„Herz?", fragte ich und schrieb das Wort in den Sand, daneben malte ich eine Figur und einen Pfeil, der auf ihr Herz deutete.

Ohitika schüttelte den Kopf. „Wichachante", sagte er und deutete auf mein gemaltes Herz. „Herz", wiederholte er.

„Ha", sagte ich. Das hieß ‚ja' und wurde mit einem nasalen ‚n' am Ende gesprochen.

Es dauerte eine Weile, bis er mir verständlich gemacht hatte, das sein Name ‚mutig' oder ‚tapfer' bedeutete, jedenfalls reimte ich mir das am Ende so zusammen.

Ein paar der Kinder sammelten sich jetzt um uns herum und beobachteten neugierig die Zeichnungen in der Erde. Ohitika blinzelte ihnen freundlich zu.

„Wakinyan-hihunji-win", sagte ein kleines Mädchen zu mir. Sie war die Einzige, die sich traute, mich anzusprechen. Die anderen hielten sich scheu zurück. Sie war vielleicht vier Jahre alt und hatte große dunkle Kulleraugen und ein Püppchengesicht.

Ich lächelte sie an, obwohl ich keine Ahnung hatte, was sie gesagt hatte.

„Dein Name", brachte Ohitika hervor.

Plötzlich Indianer - Eine ZeitreisegeschichteWhere stories live. Discover now