Zugabe

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Annas Hand, die das Telefon hielt, sank herunter. Mit glasigen Augen starrte sie auf ihren Schreibtisch mit den Stapeln von Papieren und sah doch nichts. Der Computerbildschirm flimmerte — oder war das ihre Sicht? Alles wirkte verschwommen, unscharf. Die Stimme von Frau Bühner, der Englischlehrerin ihrer Tochter, am anderen Ende der Leitung klang noch immer in ihrem Ohr nach.

„... haben eine Suchexpedition gestartet, die aber noch keine Spuren ergeben hat. Außer dem Handy ihrer Tochter haben wir nichts gefunden. Es tut mir so leid."

Marie sollte verschwunden sein? Einfach so verschollen, in irgendeiner Höhle in Amerika? Anna merkte, dass ihre Hände zitterten. Sie verschränkte die Finger fest miteinander, um sie unter Kontrolle zu bringen, und zwang sich, einen klaren Kopf zu bewahren. Was tun?

Sie musste ihren Mann anrufen, um ihm die Hiobsbotschaft zu überbringen. Auch wenn sie nicht mehr viel miteinander sprachen, seit die Scheidung feststand und er ausgezogen war ... das würde sie ihm sagen müssen. Ganz automatisch wählten ihre Finger die Nummer und hoben das Telefon wieder an ihr Ohr.

„Hallo, Michael", sagte sie heiser.

„Anna? Kann ich dich später zurückrufen? Es passt gerade nicht gut." Seine Stimme klang harsch, abweisend. Im Hintergrund hörte sie ein leises Summen. Vermutlich saß er gerade im Auto, wieder einmal auf dem Weg zu irgendeinem Meeting.

„Es geht um ... Marie", hörte sie sich selbst sagen. „Ich habe einen Anruf von ihrer Lehrerin bekommen. Es ist ... etwas passiert." Ihre Stimme brach und sie musste kurz schlucken, um ihre Fassung zu bewahren. Ihr Mann schwieg; sie spürte beinahe seine Spannung.

Und dann erzählte sie ihm stockend, was sie gerade erfahren hatte, und es war, als würde das Geschehene erst dadurch Wirklichkeit werden und zu ihr durchdringen. „Was sollen wir tun?", fragte sie, als sie geendet hatte. Ihre Stimme war nur noch ein Wimmern und sie verabscheute sich dafür.

„Bleib ganz ruhig", erwiderte Michael fest. In Krisensituationen bewahrte er immer einen kühlen Kopf. Dafür hatte sie ihn einst geliebt. „Sie suchen doch nach ihr, hast du gesagt. Bestimmt finden sie sie bald und alles findet ein gutes Ende."

„Und was, wenn nicht?", flüsterte Anna in den Hörer.

Michael zögerte einen Moment. „Ich komme zu euch ... Sag Max nichts davon. Er muss sich nicht unnötig Sorgen machen."

„In Ordnung", hauchte sie und legte auf.

Und dann bahnten sich die Tränen doch ihren Weg. Sie legte den Kopf in ihre Hände und schluchzte jämmerlich, dankbar, dass sie sich ihr Home Office mit niemandem teilen musste.

Am Abend herrschte eine seltsame Stimmung am Tisch. Anna hatte Nudeln mit Bolognesesoße gekocht, Max' Lieblingsgericht, doch er wollte heute kaum etwas davon essen. Er ahnte wohl, dass etwas nicht stimmte, wenn sein Vater freiwillig mit ihnen zu Abend aß und es dabei nicht einmal Streit gab. Michael und Anna schwiegen oder antworteten nur einsilbig auf seine Fragen. Wann immer das Telefon klingelte, sprang Anna auf und rannte mit ihrem Handy aus dem Raum, damit Max nichts hörte, falls ...

Doch es waren nur eine Bekannte und ihr Chef von der Agentur, die sie rasch wieder abwimmelte. Sie konnte sich jetzt weder mit Arbeit befassen, noch ihrer Freundin zuhören, die von ihren kleinen, unwichtigen Problemchen erzählte.

„Was ist denn los, Mama?", bohrte Max, als sie wieder in die Küche kam.

„Nichts, ist schon gut. Ich ..." Sie suchte nach einer guten Erklärung.

Ein Klingeln an der Tür ersparte ihr eine weitere Ausflucht.

Michael und sie wechselten einen Blick. Wer konnte das sein? Die Polizei? Aber nein, hier in Deutschland hatten sie doch nichts damit zu tun. Trotzdem waren Annas Knie weich, als sie zur Tür ging, und sie war sogar froh über Michaels Begleitung.

Plötzlich Indianer - Eine ZeitreisegeschichteDär berättelser lever. Upptäck nu