Kapitel 26

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Die Reise dauerte mehrere Tage. Tage, die an mir vorbeizogen wie in einem Traum. Ich bekam kaum etwas von meiner Umgebung mit, auch wenn ich nach der ersten Nacht wieder im Sitzen reiten durfte. Sie hatten wohl gemerkt, dass ich kaum Kraft genug hatte, mich zu bewegen, oder überhaupt über eine Flucht nachzudenken. Trotzdem ließen sie mich nie aus den Augen und banden mir die Füße zusammen, wann immer wir Pause machten.

Der Schnee taute Tag um Tag mehr, bis der matschig-feuchte, braune Waldboden wieder zum Vorschein kam und die Landschaft all ihren Glanz verlor. Der Himmel war grau und mit schweren Wolken bedeckt, und am dritten Tag begann ein leiser Nieselregen, der gar nicht mehr aufhören wollte. Die Goldsucher fluchten und schimpften, weil sie durchnässt und hungrig waren, und vermutlich weil sie Angst hatten. Angst vor der Vergeltung der Indianer.

Aber es wusste ja niemand aus unserem Dorf, was geschehen war. Wenn ich daran dachte, kamen mir immer wieder die Tränen und dann versuchte ich rasch, mein Gesicht abzuwenden, damit sie nicht merkten, wie sehr es mich quälte ... das Bild von Ohitika im Schnee. Er hatte versucht, mich zu retten — und warum? Nur, weil ich so dumm gewesen war, diesen Männern überhaupt erst in die Arme zu laufen. Es war meine Schuld.

Würde ich ihn jemals wiedersehen? War er überhaupt noch am Leben? Die Ungewissheit machte mich verrückt.

Ich aß nur wenig und sprach kein einziges Wort, auch wenn Stuart und die anderen immer wieder versuchten, Informationen aus mir herauszuholen. Immerhin ließen sie mich sonst in Ruhe und rührten mich nicht an. Vielleicht lag es daran, dass ich erbärmlich stank, weil ich mich seit vier Tagen nicht mehr richtig gewaschen hatte.

Ich erfuhr aus ihren Gesprächen, dass sie seit Monaten in den Black Hills herumgewandert waren und in den Flüssen und Höhlen nach Gold gesucht hatten. Sie hatten allerdings nur Narrengold gefunden, ein Eisenmineral, das ebenso golden funkelte, aber kein Gold war. Sie beschlossen, dass man sie reingelegt hatte und dass sie nach Montana gehen würden, um dort ihr Glück zu versuchen. Auf dem Weg würden sie mich an einem Fort der Weißen abliefern.

Da es dem Verwundeten, Harry, immer schlechter ging, hatten sie ihm ein Tragegestell aus zwei langen, dünnen Baumstämmen gebaut, die an den Seiten von zwei hinereinander laufenden Maultieren befestigt waren; dazwischen war eine Decke gespannt. Den Toten hatten sie vergraben, sobald wir das erste Mal Pause machten. Das dumpfe Geräusch, als sie mit einem Spaten die Erde über dem Körper aufschütteten, hatte mir wieder Übelkeit verursacht. Auch Jim war wegen mir gestorben — Ohitika hatte ihn getötet. Und obwohl Jim mir von Anfang an unsympathisch gewesen war, wog auch diese Tatsache schwer auf meinem Herzen.

Am vierten Tag der Reise wurden die Männer lebhafter und liefen beschwingter neben den Maultieren her.

„Nur noch den Fluss überqueren und wir haben's geschafft", sagte Stuart mit einem aufmunternden Klaps auf Harrys Arm. Der Mann zuckte leicht zusammen. Ohitikas Pfeilspitze steckte immer noch in seiner Schulter, zwischen Sehne und Knochen, fest. Er musste starke Schmerzen haben; nachts wälzte er sich stöhnend auf seinem Lager und hielt uns alle vom Schlafen ab, tagsüber schien er nur vor sich hinzudämmern.

Ich hörte bereits das Rauschen des Flusses vor uns. Stuarts Worte hatten mich aus meiner Halbstarre gerissen, in der ich die letzten Tage verbracht hatte. Wohin würde ich kommen, wenn wir diesen Fluss überquerten? Falls wir es schafften, ihn zu überqueren.

Mir wurde klar, dass das gar nicht so einfach sein würde, als ich zwischen den Bäumen einen Blick auf das Wasser erhaschte. Der Fluss war zwar nicht sehr breit, aber extrem wild und schnell. Die reißenden Fluten schossen durch eine enge Schneise und schäumten und strudelten mit großer Wucht talwärts, noch zusätzlich gespeist durch den getauten Schnee.

Plötzlich Indianer - Eine ZeitreisegeschichteWo Geschichten leben. Entdecke jetzt