Kapitel 6

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Die Sonnenstrahlen malten ein langgezogenes Oval aus Licht auf den mit Decken und Fellen belegten Boden des Versammlungszeltes, auf dem auch meine Sachen ausgebreitet waren. Ich sah fragend zu dem Indianer vor mir, der eine Feder im Haar trug. Ich nahm, dass er der Häuptling war, denn er hatte als Erster zu mir gesprochen. Nun nickte er dem alten Mann neben ihm zu, dessen Zelt ich schon besucht hatte. Vermutlich war es seine Frau gewesen, die meinen Knöchel verbunden hatte. Er blickte unverwandt zu mir auf. Um seine Augen und seinen Mund hatten sich tiefe Falten eingegraben.

"Was dein Name?", brachte er hervor.

Ich starrte ihn an. Hatte ich mich verhört oder hatte er mich gerade auf Englisch angesprochen?

"Was dein Name?", wiederholte er in seinem gebrochenen Englisch, als ich keine Antwort gab.

Ich hätte beinahe geweint vor Erleichterung. Englisch! Er sprach tatsächlich English. Endlich konnte ich mit jemandem reden, auch wenn er einen starken Akzent hatte und ich mich anstrengen musste, ihn zu verstehen.

„Mein Name ist Marie", sagte ich.

„Ma-lie?", fragte er nach.

Ich nickte, da ich fand, dass es jetzt Wichtigeres gab, als ihm beizubringen, wie man meinen Namen richtig aussprach. Mein Herz klopfte vor Aufregung.

„Tatanka Wakon", sagte er und deutete dabei auf sich selbst. "Das Mazzukata", er nickte zu dem Mann mit der Feder. "Häuptling der Lakota."

Ich wiederholte die Worte in meinem Kopf, um mir die Namen zu merken.

„Du kommen nicht von hier?", fragte er weiter. Er redete langsam und stockend, da er offenbar nicht viel Übung im Sprechen dieser Sprache hatte.

Ich schüttelte den Kopf. „Nein."

„Ohitika dich finden in Cheha Sapa ... Schwarze Berge."

Ohitika? Ich blickte kurz zu dem jungen Indianer hinüber, der noch immer neben mir stand. War das sein Name? Seine Miene blieb undurchdringlich. Er schaute mich nicht an, hörte aber offenbar aufmerksam zu.

„Ja, in den Black Hills. Ich war in einer Höhle ... und dann kam der Bär ..." Ich musste nach den englischen Wörtern suchen und wusste nicht, ob er mich wirklich verstand. Dann wagte ich es, selbst eine Frage zu stellen. „Wo ist die nächste Stadt ... der Weißen?"

Er legte seine Stirn in noch mehr Falten. „Waschitschu? Weiße?"

Ich nickte.

„Waschitschu nicht hier. Hier Land der Lakota. Wie weiße Mädchen kommen in Land der Lakota?"

Ich hob meine Schultern. Wenn ich das nur wüsste! Und es ihm zu erklären überstieg vermutlich die Englischkenntnisse von uns beiden.

Er redete kurz und schnell mit dem Häuptling neben mir, teilte ihm offenbar mit, was wir gerade besprochen hatten. Der Häuptling erwiderte etwas, woraufhin Tatanka Wakon wieder das Wort an mich richtete.

„Du besitzen große Geheimnisse", sagte er.

Ich sah ihn verständnislos an. Mit einer Armbewegung deutete er auf meine vor ihnen ausgebreiteten Sachen. „Geheimnisse?", fragte ich und glaubte, nicht richtig gehört zu haben.

Er nahm das Buch in seine runzligen Hände und schlug es auf. Dabei wirkte er beinahe ehrfürchtig. „Wissen viel über Lakota", sagte er und hielt inne, als er eine Seite mit alten Schwarz-Weiß-Fotografien erreichte. Da war ein stolzer Mann mit Federkrone, ein Mädchen mit traurigen Augen, eine Familie, die vor einem Tipi stand ...

„Wakan", murmelte er und fuhr mit dem knochigen Zeigefinger über die Seite. „Großer Zauber." Ich konnte mir sein Erstaunen nur dadurch erklären, dass er noch nie ein Foto gesehen hatte.

Plötzlich Indianer - Eine ZeitreisegeschichteWhere stories live. Discover now