Die Welt steht Kopf

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Lügen sind wie Spiegel, die das Bild verzerren, bis man nichts mehr darin erkennt.


Wenn es etwas gibt, mit dem ich überhaupt nicht klar komme, sind das Lügen und auf Schwindel gebaute, falsche Hoffnungen.

Und doch - stehe ich mittendrin; in einem Scherbenmeer aus zerbrochenen Gewissheiten und Zukunftsträumen.
Alles, was bleibt, ist hilflos zuzusehen, wie sie davon schwimmen.

Die Sonne geht unter und ihr sanftes, goldenes Streulicht streift die Wasserfläche um mich herum. Alles existiert doppelt: Ich, der Stein, auf dem ich stehe, die Klippen in meinem Rücken und der Himmel über mir. Nur eines ist echt; das andere eine Lüge. Flüchtige Erscheinungen, die jeder Windhauch, jede Welle im Bruchteil einer Sekunde enttarnen könnte.

Und doch tut sich - nichts.

Selbst die Natur vermag die Realität nicht vom Trugbild zu unterscheiden. Oder sie schert sich nicht darum.

Die ganze Welt steht Kopf.

Meine Tränen tropfen in den falschen Himmel und ich spucke in hohem Bogen hinterher.

David hat gelogen.

„Solange ich bei dir bin, wirst du nie den Halt verlieren." Das hatte er mir versichert, immer und immer wieder; das letzte Mal erst vor zwei Tagen.

Der Findling, auf dem ich stehe, ist etwas mehr als anderthalb Meter hoch, nass und glitschig. Er wurde irgendwann von einer gewaltigen Kraft hierher geschoben und dann zurückgelassen. Meine Zehen drücken in den dünnen Sohlen der Sneaker fest dagegen und rutschen trotzdem.

In dem hartnäckigen Versuch, mein Gleichgewicht zu wahren, strecke ich die Arme aus.

Ich will mich festhalten. Nur woran?

Meine Arme rudern ins Leere während im Himmel unter mir die Bilder vorüberziehen:

Wie wir im Sandkasten zusammen Murmelbahnen bauten, wie er zum Schuleingang meine Zuckertüte trug, wie er mir auf der Gitarre seinen ersten selbst komponierten Song vorspielte und wie wir beim Abschlussball engumschlungen zusammen tanzten.

Schniefend starre ich auf die Wolkenbilder unter meinen Füßen.

War alles gelogen?

Ich höre die Fürsorge, mit der David mir letzens beim Bouldern Tipps zurief, wo ich meinen Fuß platzieren sollte, oder welcher Griff der Beste war. Ich fühle seine Umarmung um meine Schultern, wenn ich direkt in seine Arme absprang und schmecke die Küsse, die wir uns gaben, als hätten wir gemeinsam den Mount Everest erklommen.

Sofort wird mir warm. Meine Gefühle begreifen die neue Realität noch schlechter als ich.

Der Wind fegt mit einem Stoß um meine Ohren. Er hat gedreht und weht vom Land; zu kühl, um angenehm zu sein; eher so, als wöllte er mich auf den Boden der Tatsachen zurückholen:

David hat Schluss gemacht. So ist es.

Und ich dachte, wir gehörten zusammen wie Quarz und Feldspat. Unzertrennlich und beständig, die Zeit überdauernd.

Alles Lüge.

Ohne ihn bin ich nichts.

Das ist die grauenvolle Wahrheit, der ich jetzt ins Gesicht sehen muss.

Meine Augen sind voller Tränen und ich sehe gar nichts mehr. Das Wasser läuft mir aus der Nase und staut sich in meiner Kehle. Ich japse und schluchze, und es ist, als würde ich in meinen eigenen Tränen ertrinken.

Die Maske des Dogen - das Geheimnis von VenedigWhere stories live. Discover now