Rattenalarm

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Wie zwei Augen eines Raubtiers nähern sich die weißen Lichter rasend schnell. Sie blenden mich mit ihren grellen Strahlen, die jeden Winkel des Kanals ausleuchten. Das Schnellboot schneidet durch das Wasser wie ein Messer, das Schaum und Wellen hinter sich lässt. Ich spüre, wie mein Herz rast und mein Atem stockt.

Doch ich bin nicht das Reh, das auf den Aufprall wartet.

Ich hangel mich unter der Brücke näher Richtung Ufer und spähe dabei angestrengt in die Dunkelheit. Die Stimmen der Jäger dringen an mein Ohr. Ihre Schritte donnern auf der Brücke. Ich zittere aus Angst, dass sie mich entdecken.

„Lei dov'è?"

„Laggiù! La gondola!"

Ihre rauen Stimmen machen mir Angst, doch wenn ich sie richtig verstehe, denken sie, dass ich noch in der Gondel bin. Und richtig, wie ein Ungeheuer verlässt der dunkle Zug stapfend die Brücke und bewegt sich weiter den Lauf des Kanals hinab.

Geräuschlos schwinge ich mich ans Ufer und folge Ihnen mit etwas Abstand auf dem schmalen Uferweg. Die Kapuze halte ich tief ins Gesicht gezogen und den Kopf gesenkt.

Der Trupp bewegt sich schnell und keiner der Männer dreht sich um, doch ich weiß, dass der wahre Jäger hinter mir ist.

Ich zucke zusammen, als ich ein Rascheln höre, ein Schatten huscht an mir vorbei und ein aufgeschrecktes Quieken ertönt. 'Oh Gott, eine Ratte!', trotzdem bin ich froh, dass es nicht Lucian ist, der im Dunkeln gelauert hat.

Und trotzdem scheint er zu wissen, wo ich bin. Der Motor des Schnellboots erstirbt und mit ihm das Licht. Die Nacht verschluckt mich und die Angst kriecht mir den Rücken hoch. Ich fühle, wie da im Kanal etwas Grauenvolles lauert und Lucians Vers drängt sich in meinen Verstand:

Ich bin ein Jäger der Nacht,
die Dunkelheit das Gewand - für mich gemacht,
die Insel der Seelen ist mein Reich,
und hole ich dich, dann bist du meins!

Meine Beine zittern so sehr, dass ich fürchte, sie versagen mir den Dienst.

Ich muss hier weg! Doch wo soll ich hin? Ich kauere mich hinter eine riesige Mülltonne. Sinke zusammen wie ein Häufchen Elend, während mein Herz so laut in meiner Brust schlägt, das ich meine, ganz Venedig könne es hören.

Über das Wummern hinweg, vernehme ich Schritte, die näher kommen. Sie klingen fest und anmutig. Ich erkenne die Stimme von Lucian, der seinen Männern Befehle zubrüllt. Er ist hier, um mich zu finden. Mit angehaltenem Atem verfolge ich, wie der Trupp sich in alle Richtungen verteilt.

Wie konnte das passieren? Wie Zum Teufel ist mein Leben so aus den Fugen geraten?

Der Mann, den ich liebe, hat mich ohne Erklärung verlassen. Der Mann, der mich liebt, jagt mich wie eine Beute. Er sagt, ich bin seine wahre Liebe, doch er lügt.

Ich beginne lautlos zu weinen, meine Schultern beben und meine Knie schrammen trotz des Mantels gegen die harten Steine. Wenn das wahre Liebe ist, kann ich getrost darauf verzichten. Ich denke an Jenna und jetzt, wo ich sie verloren habe, erinnere ich mich an ihr Motto: Wahre Liebe findest du überall, solange du dich selbst liebst und dich nicht von anderen abhängig machst. Jenna, du Sonnenschein! Ich habe dir nie zugehört und jetzt habe ich dich auch noch im Stich gelassen! Ich schluchze und wische mir mit dem Mantel die Tränen ab.

Ich weiß nicht mal, ob sie noch lebt. Aber ich muss sie finden!

Doch wie? Vorsichtig spähe ich um die Ecke.

Lucian steht erhöht auf einer Stufe an der Brücke. In der Rechten hält er eine Fackel, deren Schein über sein Gesicht zuckt und seiner Löwenmaske etwas Dämonisches verleiht. Ein Teil der Meute scharrt sich um ihn.

Mit angehaltenem Atem beobachte ich, wie er mit einer einzigen Geste seine Männer in eine Gasse schickt. Ich verharre in meinem Versteck. Rieche den Gestank der Mülltonne und höre das Klappern ihrer Schuhe auf dem Pflaster. Mein Puls beruhigt sich langsam, aber ich traue mich nicht, mich zu bewegen. Ich verharre, bis die letzte Kutte vom Dunkel der Gasse verschluckt wird, bevor ich ausatme und aus meinem Versteck krieche.

Was soll ich jetzt tun, um Jenna zu finden?

Ich spähe in die Gasse und beschließe, Ihnen zu folgen.

Die Jäger legen ein beachtliches Tempo vor und ihre Schritte sind so ausladend, dass ich ins schwitzen komme, als ich dem Letzten von Ihnen durch die dunkle Straße hinterherjage. Ich ahme Ihre Haltung und ihren Gang bestmöglich nach und hoffe, dass ich mit meiner kleinen Statur niemandem auffalle. Vor allem nicht Lucian.

Ich hoffe, dass ich Jenna finde, bevor sie mich entlarven.

Doch ich bin kein Jäger. Und ich bin nicht darauf vorbereitet, was als nächstes geschieht. Ein Schuss ertönt. Der Schall prallt von den engen Wänden ab und hallt in meinen Ohren. Die Meute beschleunigt, ihre Schreie peitschen durch die Luft. Ich muss mich zusammenreißen, um nicht umzukehren und zu fliehen.

Ich habe Angst, so heftig, wie der Knall gerade eben. Was, wenn sie Jenna getroffen haben?

Meine Füße sind schwer wie Blei und dennoch zwinge ich sie weiter voran. Da vorn! Die Jäger drängen sich dicht zusammen. Ich umrunde den Pulk und versuche, zwischen ihnen hindurchzuspähen. Ich zucke zusammen, als ich etwas Weißes zwischen dem Schwarz aufblitzen sehe. Und dann sehe ich rotes Haar.

Mein Atem entweicht mit einem Stoß. Im allerersten Moment fühle ich Erleichterung, doch schon im nächsten rollt der Kummer wie eine Lawine über mich hinweg. Die Rothaarige von heute Abend.

Mir wird übel und mein Magen verkrampft, als sich eine Hand auf meine Schulter legt.

„Du bist wirklich besonders, mia felice." Ich wirbele zu Lucian herum. „Eine Beute, die selbst zum Jäger wird und dabei ihrem Häscher direkt in die Arme läuft. Das gefällt mir."


Die Maske des Dogen - das Geheimnis von VenedigWo Geschichten leben. Entdecke jetzt