La caccia è aperta!

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„Es hat noch nicht begonnen!" Lucians Ruf gleicht einem drohenden Grollen. Ich beschleunige meine Schritte, sodass die Locken wild auf meinen Schultern hüpfen und ich Mühe habe, durch sie hindurchzuspähen, während ich nach Jenna Ausschau halte. Wo zum Teufel steckt sie?

Obwohl das Fest bereits in vollem Gang ist, sind bisher nur Männer da. Sie stehen in Grüppchen beisammen, unterhalten sich, schlemmen und trinken Champagner, Wein oder Ramazotti, dass die Kellner mit den Tabletts kaum hinterherkommen. Hier und da höre ich ein „Salute" oder „Alla Nostra."

Doch Jenna entdecke ich nirgends. Während ich mich hektisch nach ihr umsehe, registriere ich, dass das Murmeln, das bisher vielstimmig wie eine Musikuntermalung im Hintergrund dahinplätscherte, sich zu einem einzigen heiseren Raunen vereinigt. Alle Köpfe sind auf die Eingänge gerichtet, von denen sich nun die mittlere Flügeltür öffnet und ein Zug Frauen den Saal betritt. Sie alle sind jung und hübsch. Die meisten zieren die sonnenverwöhnten Haut- und Haarfarben von Italienerinnen, ich entdecke aber auch zwei hellblonde und ein rothaariges Mädchen mit blasserer Haut.

Zu meinem Erstaunen tragen sie allesamt weiße Kleider. Fast wie Jennas. Entweder ist weiß total in Mode oder es gibt für solche Bälle einen Dresscode. So oder so: Ich falle komplett aus dem Muster.

Erneut schweift mein Blick über die Gäste und da entdecke ich Jenna. Sie mustert die anderen Frauen ebenfalls und scheint sich dabei alles andere als wohl zu fühlen. Kein Wunder. Immerhin hatte sie das weiße Kleid gewählt, um aus der Masse herauszustechen und nicht, um darin unterzugehen.

Die Arme. Zögernd reiße ich meinen Blick von ihr los und lenke ihn erneut zu den jungen Frauen, die ihren Weg Richtung Bühne fortsetzen.

Ihre gesenkten Köpfe, die hängenden Schultern und die schlurfenden Schritte bereiten mir eine Gänsehaut. Seltsam. Hier stimmt etwas nicht. Es fehlen nur die Fußfesseln, dann sähe es aus wie ein Sklavenzug.
Ich versuche, einen Blick auf die zum Boden gerichteten Gesichter zu erhaschen: Verbissene Mienen statt Lächeln. Entweder haben die alle keine Einladung, oder sie werden gezwungen.

Noch bevor sich der Gedanke weiterspinnt, sehe ich wieder das merkwürdige Pappschild vor mir:

Silence allows violence.

Palazzo silencio.

Weiß. Eine Farbe des Opfers.

Ich zittere am ganzen Körper und ducke mich, um weniger aufzufallen, während ich nach Lucian Ausschau halte. Da! Er steht am Rand und verfolgt wie alle anderen den Einzug der Frauen.

Ich lasse ihn nicht aus den Augen, während sich meine Füße rückwärts und ohne jedes Geräusch über den Marmorboden schieben, bis ich neben Jenna bin.

„Wir müssen abhauen! Jetzt!" Um nicht zu viel Aufmerksamkeit zu erregen, flüstere ich. Doch Jenna reagiert nicht. Noch immer starrt sie gebannt auf die Frauen.

Ach komm, so wild ist das mit dem Kleid doch nun auch nicht!

„Weiß", murmelt sie tonlos.

„Ich weiß, Jenna, blöd gelaufen, aber ..." Gott, wieso versteht sie nicht, dass dafür gerade keine Zeit ist?

„Mary trug weiß."

Ich lasse ihr Kleid los, an dem ich bis eben noch gezupft habe und sie dreht endlich ihren Kopf zu mir. „Feli?"

Ja, Blitzmerker! Wer denn sonst? Mensch, die steht ja total neben der Spur. Hat sie schon so viel Champagner getrunken?

„Wir müssen verschwinden! Komm!", zische ich ihr ins Ohr. Und als ich hinter mir das Knallen von festen Schritten auf Marmor höre, reiße ich sie am Arm vorwärts.

„Mia Felicita, der Startschuss ist noch nicht gefallen!" Die Stimme hinter mir ist sanft, doch ich zweifel nicht eine Sekunde daran, dass sie nur die Gefahr, die von ihr ausgeht, verbergen will. Wie eine Kerze, deren sanfte Flamme in der Lage ist, ganze Häuser niederzubrennen.

Ich greife Jennas Oberarm.

 „Felicitas, komm zu mir!" Die mit einem blauen Seidentuch verhangene Gewehrmündung ist direkt auf meinen Rücken gerichtet. Ich muss nicht hinsehen, um das zu wissen. Dieses Bild vermittelt mir Lucian Caccias Stimme. Und ich brauche ihm auch nicht nochmal in die Augen zu blicken, stattdessen renne ich los und schleife Jenna mit.

„La caccia è aperta!", brüllt er hinter uns und jetzt klingt es wirklich wie das Brüllen eines Löwen.

Die Maske des Dogen - das Geheimnis von VenedigWo Geschichten leben. Entdecke jetzt