Il mio vero amore

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„Beim Bouldern ist es wichtig, dass du sichere Griffe und Tritte wählst, auf deine Atmung achtest und nicht verkrampfst." Davids Stimme leitet mich an, während meine Füße seitlich verdreht auf dem schmalen Sims stehen und so heftig wackeln, dass es sich anfühlt, als zerbrösele der Putz unter ihnen wie trockener Keks.

Den Mantel habe ich abgestreift, aus Angst, dass er mich behindert und nun schlingt die kalte Nachtluft ihre Arme um mich, während es mir in zwanzig Metern Höhe flatterig wird wie einer goldenen Fahne im Wind.

„Habe Vertrauen und Mut, das nutzt mehr als Geschick oder Übung!" Ich erinnere mich an Davids ruhige Stimme und atme tief aus; reiße mich zusammen. Vorsichtig tasten meine Zehen über den üppigen Stuck in die Tiefe, während sich meine Finger am Fensterrahmen festklammern. Am Bogen des Fensters ein Stockwerk tiefer finden sie Halt. Der zweite Fuß folgt und dann meine Finger.

Mein Blick haftet konzentriert an der Wand.

Einen Teufel werde ich tun, dorthin zu schauen, wo der Nebel aus dem schwarzen Kanal emporsteigt. Der Dunkelheit falle ich nicht noch einmal in die Klauen!

Stattdessen konzentriere ich mich auf jeden Quadratmillimeter der hellen Fassade, den meine Fußballen und Handflächen abtasten. Fenster um Fenster und Stockwerk um Stockwerk klettere ich tiefer. Auf Höhe des Ballsaals dringt dumpfes Geschimpfe und Gelächter nach draußen, die meinen Puls in die Höhe treiben. Bin ich zu sehen? Bei der Vorstellung, dass der halbe Saal mir unter das Kleid schaut, sträuben sich meine Nackenhaare, doch ich setze meinen Weg unbeirrt fort.

Mit dem Gefühl, eine schwere Prüfung überstanden zu haben, stoße ich mich ab und falle. Statt auf weichen Matten, lande ich auf dreckigem Pflaster. Meine Knie schlagen auf und das Blut läuft hell und wässrig in den Rinnstein, doch ich heule ihm nicht nach. Ich nehme Anlauf, springe über den finsteren Kanal und dann renne ich um mein Leben.

Ich denke nicht an irgendwen. Nur an mich, während ich eine um die andere dunkle Gasse hinter mir lasse bis die Bauzäune mit den weißen Schildern vor mir auftauchen.

Road closed. Dieses Kapitel ist endgültig vorbei. Wie Jenna am Abend zuvor hebe ich eines der Zaunfelder aus der Verankerung und zwänge mich hindurch. Ich bleibe mit dem Oberarm hängen, dass die Haut einreißt, doch ich spüre es kaum. Blutend, dreckig und zitternd vor Erschöpfung erreiche ich das Hotel.

Der alte Rezeptionist mit den Knopfaugen sieht überrascht auf. Es steht auf seiner Stirn geschrieben, dass er nicht damit gerechnet hatte, mich wiederzusehen. „Buongiorno signorina, ora andrà tutto bene", grüßt er freundlich und ich nicke und hoffe, dass er Recht behält und irgendwie wirklich alles tutto bene werden würde. Er überreicht mir die Schlüssel für unser Zimmer und ich tappe hinauf, wo ich dusche, mich umziehe und es tunlichst vermeide, auf Jennas Gepäck zu sehen. Was natürlich nicht klappt.

Das Warum ist so quälend wie Lucians Maske, die immer noch auf meiner Haut festpappt. Doch ich kenne den Grund. Für Mary, aus wahrer Liebe. Ich bin sauer auf Jenna und verfluche ihren Verrat und gleichzeitig wünsche ich, sie hätte mir von ihrem Vorhaben erzählt, Mary zu befreien. Dann hätte ich ihr endlich helfen können! Wie sehr hatte ich mir das immer gewünscht. Aber ich hatte nie mit ihr darüber gesprochen. Jetzt könnte ich mir dafür gegen die Stirn schlagen, aber dort hing die Maske. Gern würde ich Jenna drücken und ihr sagen, dass ich ihr verzeihe, obwohl ich dazu noch gar nicht bereit bin. Ich vermisse sie unendlich!



Die Ansage des Piloten rauscht im Lautsprecher und es klingt wie das Schnurren einer übersättigten, von der Jagd ermüdeten Katze.

Ich versuche, der leisen, wehmütigen Trauer nicht nachzugeben, die mich bei dem eigenartigen Klang durchfährt. Das sonore Vibrieren des Flugzeugs, das Wände und Sitze durchdringt, hallt in mir nach und meine Seele vibriert in Erinnerung an ihn. Lucian.

Erschöpft fahre ich mir mit den Händen über das Gesicht.

Frei. Meine Haut kann wieder atmen und nicht nur sie. Ich atme tief ein, als ich daran denke, wie ich sie losgeworden war. Geduscht und mit einem weißen Handtuch umwickelt, war ich hinaus auf den Balkon getreten. Andächtig hatte ich dabei zugesehen, wie die ersten Strahlen der Morgensonne sich aus der Lagune erhoben und die Dachziegel mit ihrem orangenen Licht streichelten und küssten. Und als kurz darauf das durchdringende Läuten der Glocken einer Kirche ganze Acht mal die schwere Stille der Nacht durchbrach, löste sich der Nebel in den Gassen endgültig auf und verschwand. Und mit dem letzten Glockenschlag öffnete sich das Band und die Maske fiel von meinem Gesicht.

„La caccia è finita", hatte Lucian in der Nacht zu mir gesagt und am Morgen hatte ich es laut über die Dächer gebrüllt, dass es überall zu hören war.

Die Erinnerung macht mich stark und ich ziehe die beiden Briefe aus meiner Tasche, die im Taxi, das mich zum Flughafen brachte, auf der Rückbank lagen.

Einer ist an Jennas Eltern adressiert und ich öffne ihn lieber nicht. Es würde mir nur wieder die Tränen in die Augen treiben.

Der Airbus fliegt eine Kurve und ich sehe die Kuppeln der Kirche St. Markus neben dem Dogenpalast in der Sonne blitzen. Die ganze Stadt wird durchflutet von gleißendem Licht. Der Himmel neben meinem kleinen Fenster ist strahlend blau.

Ich öffne den Brief, der mit per la felicità adressiert ist. Für das Glück, alter Scherzkeks.

Im Umschlag steckt ein weißer, gefalteter Tonkarton. Ich atme ein, um mich zu wappnen und lehne mich tiefer im Sitz zurück, bevor ich ihn auseinanderklappe.

Il mio vero amore,

Silence allows rescue.
Jenna hat ihre Chance vertan.
Wenn du sie und Mary zurückhaben willst, nutze du deine.
Komm am 03. Februar 2024 zur großen Eröffnungsfeier des Karnevals auf den Markusplatz in Venedig.
Ich werde dich erwarten.

In ewiger Liebe Lucian Mazzanti

Ich zerknülle den Zettel in meiner Hand; sogar bei seinem Namen hatte er gelogen.
Aber die Chance, die er mir gibt, werde ich nutzen!

Als hätte sie nur diesen Entschluss abgewartet, fordert die lange Nacht ihren Tribut. Meine Lider zucken und kurz darauf empfängt mich der ersehnte Schlaf.

Im Traum sehe ich Jenna in goldenen Ketten in einem weißen Kleid. Ihre blaugrauen Augen sehen in meine und ich gebe ihr ein Versprechen.

Erst als das Flugzeug zum Landeanflug ansetzt, werde ich wach. Ich öffne die Augen und sehe Hamburg wie eine Spielzeugstadt unter mir. Meine Welt steht immer noch Kopf, aber nicht mehr wegen der Trennung von David, die ja eigentlich gar nicht stattgefunden hat, sondern wegen Lucian.

Ein sanftes Rütteln geht durch die Reihen, als die Maschine auf der Landebahn aufsetzt. Ich bin erleichtert über die sichere Landung und brenne darauf, zu erkunden, wer ich bin. Denn eines steht fest: Ich bin mehr als die Freundin (oder Ex) von David und auf gar keinen Fall bin ich die Gejagte von Lucian.

Ich bin Felicitas, die Glückliche. Und als ich den Flieger in Hamburg verlasse, bin ich fest entschlossen, für mein Glück und das meiner Lieben zu kämpfen.

Mein Vater wartet am Flughafen. Ich hatte ihn vom Hotel aus angerufen und er ist gekommen, um mich abzuholen, wie versprochen. Er nimmt mich in die Arme und ich halte ihn fest und spüre, wie die Anspannung von mir abfällt. Endlich bin ich wieder zu Hause.

Der Himmel über Hamburg ist blau, als ich ins Auto steige. Die Farbe leuchtet voller Versprechen. Ich bin entschlossen, alle zu halten.


Die Maske des Dogen - das Geheimnis von VenedigWo Geschichten leben. Entdecke jetzt