Licht und Schatten

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Nicht zu schlafen, ist eine schlechte Idee.

Als die Ansage ertönt, dass wir zum Landeanflug ansetzen und alle Passagiere aufgefordert werden, auf ihren Plätzen zu bleiben und sich anzuschnallen, rauscht alles an mir vorbei. Ein bisschen so, als würde ich statt in einem Flugzeug, in einem Auto sitzen, dass mit Vollspeed durch einen Tunnel brettert; ich sehe nicht mehr klar und in meinen Ohren ist der Empfang gestört.

Ich gähne und halte mir die Nase zu, während ich meine Backen aufpuste. Zumindest der Druck auf den Ohren lässt nach, doch dann fällt mir ein: Das Auto ist nicht allein im Tunnel.

So schnell es die bleierne Müdigkeit zulässt, drehe ich mich um. Die Stewardess versperrt den Blick auf die andere Seite des Ganges. Anscheinend diskutiert sie mit einem Passagier neben dem Espressotyp.

Ich wünsche, sie hätte den ganzen Flug dagestanden und sich nicht vom Platz bewegt. Dann hätte ich vielleicht sogar schlafen können.



Die Atmosphäre in der Ankunftshalle eines großen Flughafens hatte ich anders in Erinnerung: wuseliger; mit Kindern, die im Zickzack um Leute mit Kofferwagen herumflitzen, Reisenden, die lautstark telefonieren und sich suchend umschauen und verhallten Lautsprecherdurchsagen, die dazu auffordern, sein Gepäck nicht aus den Augen zulassen.

Doch nichts davon trifft zu.

Die Passagiere unseres Flugs bilden eine Art Prozession, die sich, wie bei einer Beerdigung auf einem Friedhof leise mit gesenkten Köpfen und schlurfenden Gang fortbewegt. Bis auf ein paar Zollbeamte ist niemand sonst zu sehen. Jenna hat sich bei mir eingehakt und gähnt jeden zweiten Schritt. Kein Wunder, Mitternacht ist durch und unsere Maschine anscheinend die Letzte, die an diesem Abend gelandet ist.

Hier wuselt nichts, noch nicht mal die Putzkolonne. Die würde erst kommen, wenn der letzte Passagier verschwunden war. Obwohl in unserem Flugzeug etwa zweihundert Personen waren, wirken wir in der riesigen Halle, wie eine Handvoll im dunklen Wald verlorene Pfadfinder.

Ich überlege, ob es an meinem persönlichen Tunnel liegt, dass alles so düster erscheint oder ob das Licht tatsächlich gedimmt ist und die Ecken und Ränder nicht ausleuchtet. Die Schatten scheinen nach mir zu greifen, wenn ich mich nur einen Schritt zu weit aus der beleuchteten Mitte entferne.

„Ich bin noch nie so spät gelandet", nuschelt Jenna gegen meinen Oberarm.

„Ich auch nicht", aber das war kein Wunder; war ich doch überhaupt erst einmal geflogen, mit neun mit meinen Eltern in die Türkei. Damals hatte ich durch den Druck auf den Ohren heftige Schmerzen und ein Arzt musste ins Hotel kommen. Den ganzen Urlaub war ich krank gewesen. Danach war meinen Eltern die Lust auf Flugreisen vergangen und mir ebenso.

David fehlte schlichtweg das Geld. Deswegen waren wir auch nicht zusammengezogen, denn auf einer Insel, die über das Jahr mehr Touristen als Einheimische beherbergt, ist Wohnraum schier unerschwinglich und mein Verdienst im Blumenladen ist alles andere als üppig.

In Gedanken bei meinen bescheidenen finanziellen Verhältnissen, lasse ich mich durch die Dunkelheit treiben. Jenna deutet von Zeit zu Zeit auf irgendwelche Schilder und ich folge ihren Zeichen, bis meine Schienbeine ans Kofferband stoßen.

Da das Band still steht, lasse ich meinen Blick schweifen. Mister Espresso steht genau auf der anderen Seite und sieht - natürlich - zu uns.

Gerade als ich Jenna warnen will, setzt das Band sich ruckelnd in Bewegung und die ersten Koffer drehen ihre Runde.

Und plötzlich sind die zweihundert Mann aus unserem Flug alle um uns rum. Ich werde in die zweite Reihe zurückgeschoben, doch es stört mich nicht. Jenna hält die Stellung und wird brüllen, wenn sie unser Gepäck entdeckt.

Die Müdigkeit schmiedet eine Allianz mit der Schwerkraft und ich bin kurz davor, mich auf den gefliesten Boden zu legen, als Jenna endlich quiekt: „Feli, da kommen sie!"

Ich rappel mich hoch und reibe mir die Augen: Alle sind verschwunden, nur Jenna, Mr. Espresso und ich stehen noch am Band.

Während wir auf die Koffer gewartet haben, scheinen die Schatten näher gekrochen zu sein. Mit einem Schaudern im Rücken sehe ich mich um: Das Gepäckband leuchtet wie eine helle Insel im weiten Schwarz des Flughafens.

Eine Bewegung am Rand meines Blickfelds holt mich zurück an Ort und Stelle. Der Espressotyp schnappt sich seinen Koffer, der nicht viel größer als eine Aktentasche ist und dreht sich zum Gehen um. Endlich. Auch unsere Koffer haben es bis vor unsere Beine geschafft. Wir beugen uns hinunter und ziehen sie vom Band. Mit dem Gepäck im Schlepptau begeben wir uns in Richtung Ausgang.

Ich taumel vor Müdigkeit, doch Jenna hat es plötzlich eilig. „Blöd, dass wir die Letzten waren. Hoffentlich hat das Taxi vom Hotel gewartet!"

Mein Kopf zuckt alarmiert zu ihr rüber. Der Gedanke mitten in der Nacht in einer fremden Stadt, in einem anderen Land am Flughafen zu stranden, lässt mich die Schritte beschleunigen. Wir geben richtig Gas, zumindest soweit unsere Koffer das zulassen.

Und schon haben wir ihn eingeholt. Er läuft zügig und seine flachen Absätze erzeugen bei jedem Auftreten einen kräftigen Widerhall. Es ist verrückt, doch diesmal bin ich es, die ihn nicht aus den Augen lässt.

Als er durch die Schiebetür nach draußen tritt, greift er in sein Jackett und ich sehe, wie etwas Kleines daraus zu Boden segelt.
Kurz darauf durchschreite ich mit Jenna die gleiche Tür. Doch während Jenna schon ihren Hals nach den wartenden Taxis reckt, scannt mein Blick den Boden.

Da! Bevor sie mich wegzieht, bücke ich mich und hebe es auf.

Die Maske des Dogen - das Geheimnis von VenedigWo Geschichten leben. Entdecke jetzt