Silence allows violence

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Das Licht auf dem Vorplatz ist grell, doch wir halten tapfer Ausschau: Jenna nach dem Taxi und ich nach dem Espresso Bräutigam.

Spitze Ecken und Kanten schneiden in meine Handfläche und ich schiebe meinen Fund schnell in die Jackentasche, ignoriere dabei geflissentlich die wie ein Rohrfink zeternde Stimme zwischen meinen Ohren: Was auch immer es ist, es gehört ihm!

Angespannt vom Scheitel bis zur Ferse spähe ich in die Dunkelheit jenseits der grellen Lichter, als Jenna neben mir erleichtert ausatmet. Sie knufft mich freudig in die Rippen und deutet auf ein beiges Taxi, das ein paar Meter entfernt steht. Ein älterer Herr in schwarzem Frack mit weißem Einstecktuch lehnt an der Beifahrertür und ich bin mir nicht sicher, ob er den Blick nur fest auf den Bordstein gerichtet hat, oder tatsächlich im Stehen eingeschlafen ist. Auf seinem lichten Kopf mit den abstehenden Ohren spiegelt sich der Schein der Neonröhren und in seiner altmodischen Kleidung wirkt er wie eine Pappfigur aus einer Theaterkulisse. An der Seite des Fahrzeugs prangt die Werbung eines Hotels:

Appoggio Palace Venice. Mit vier kleinen Sternen daneben.

Mit offenem Mund starre ich Jenna an, doch die grinst nur.

Ganz langsam schüttel ich den Kopf. Ich hatte keine konkreten Erwartungen, aber mit einer Unterkunft, die mehr als zwei Sterne aufbietet, hatte ich definitiv nicht gerechnet. Jenna weiß doch, in welcher Liga ich spiele. Am liebsten wäre ich auf dem Fuß umgedreht. Meine Hand, die den Plastegriff des Koffers umklammert, schwitzt. „Jenna, dass ... .", setze ich an. Doch sie unterbricht mich sofort:

„Mach dir keine Sorgen; mein Dad ist Stammgast - wir zahlen weniger als die Hälfte vom normalen Preis." Sie zwinkert mir zu, als hätte sie mir eben verraten, dass ihr Vater der Hotelchef höchstpersönlich ist und wir drei Wochen kostenfrei in der besten Suite residieren werden. Dann drückt sie dem älteren Herren, in den inzwischen die Lebensgeister zurückgekehrt waren, ihren Koffer in die Hand.

„Die Hälfte von viel ist immer noch viel", schimpfe ich, während der Mann auch meinen Koffer schnappt und im Kofferraum verstaut. Wenigstens der Rohrfink ist jetzt still; der kriegt vor Schreck den Schnabel nicht mehr auf.

Vor dem Einsteigen, sehe ich mich ein letztes Mal um, doch Mr. Espresso bleibt verschwunden.

Während ich zu Jenna auf die Rückbank klettere, scheint das zusammengefaltete Päckchen in meiner Tasche immer schwerer zu werden. Das Innere des Taxis riecht nach Minzschokolade und die dunkelbraune Lederpolsterung wirkt genauso gediegen und aus der Zeit gefallen, wie der Anzug des Fahrers. Kaum habe ich mich angeschnallt, ziehe ich meinen Fund aus der Tasche und betrachte ihn näher: Ein gefaltetes Pappschild mit einem weißen Karton in der Mitte.

Der Fahrer lässt den Motor an und ich klappe die Pappseiten vorsichtig auseinander:
„Silence allows Violence." Drei Worte, wie ein Slogan, in einer krakeligen Schrift. Ich runzel die Stirn. Aus dem Gebläse zwischen den Frontsitzen pustet mir eiskalte Luft entgegen. Gern würde ich den Fahrer bitten, die Klimaanlage runterzudrehen, doch dafür habe ich nicht genug Vokabeln auf dem Kasten. Meine Hände und Füße werden schneller kalt, als das Auto durch die spärlich beleuchteten Straßen fährt.

Mit gerunzelter Stirn lege ich das komische Pappschild beiseite und greife nach der Karte aus weißem, edlen Tonpapier, die dazwischen gesteckt hatte. Mit zittrigen Fingern falte ich sie auseinander:

Eine Einladung zu einer Hochzeit.

So sieht es zumindest aus. „Il silenzio permette la violenza" lautet die Überschrift aus geschwungenen goldenen Buchstaben. Und darunter steht:
Invito al ballo in maschera al Palazzo del Silenzio. Außerdem ist da noch ein Datum mit Uhrzeit und etwas, das aussieht, wie eine Adresse.

Meine Finger, die die Karte halten, zucken.

„Was ist das?" Jenna hatte müde am Fenster gelehnt, da außer unserem Spiegelbild in der Scheibe aber nichts zu sehen ist, rückt sie nun zu mir heran.

„Gefunden", murmel ich, den Blick auf die goldenen Lettern gepinnt.

„Was du so findest!" Mit großen Augen greift sie nach dem Papier. Sie dreht es zwischen ihren Fingern hin und her und liest den Text. Ihre dünnen Lippen bewegen sich und ihre Miene wird immer munterer. Als sie zu mir aufblickt, strahlt sie hell wie die Sonne am Mittag. „Feli! Das ist großartig!"

„Nein, es ist creepy. Genauso unheimlich wie der Typ, der es verloren hat." Bei der Erinnerung an seine Augen schüttel ich den Kopf und reibe mir die kalten Oberarme. Ich werde wohl den ganzen Urlaub keinen Espresso trinken, obwohl ich Kaffee wirklich liebe.

„Du hast keine Ahnung, was das ist, oder?" Jenna grinst so breit wie die ganze Rückbank.

Ich hebe eine Augenbraue. „Ein merkwürdiger Zettel, von einem komischen Typ?"

„Es ist eine Einladung! So wie es klingt, zu einem Maskenball!" Jennas Stimme überschlägt sich fast und wird mit jedem Wort höher. Amüsiert beobachte ich, wie der Fahrer die Schultern bis an die abstehenden Ohren hochzieht. Doch meine Reaktion ist ähnlich: Meine Brauen klettern bis zum Haaransatz, denn ich begreife beim besten Willen nicht, weshalb Jenna sich so freut.

„Ja, und?", entgegne ich und in meiner Stimme schlummert die Müdigkeit, die nun mit geballter Kraft zurückkommt.

„Na, wir gehen hin!" Für Jenna scheint das gar keine Frage zu sein.

Ganz bestimmt. So lieb ich Jenna habe, aber jetzt zeig ich ihr 'nen Piepvogel.

„Wir sind doch gar nicht eingeladen!" Die blöde Müdigkeit färbt meinen Protest lahmer, als er gemeint ist.

Jenna wedelt ihn mit der Einladung fort: „Und ob!"

Bevor ich sie fragen kann, ob sie noch bei Verstand ist, hält das Taxi auf einem großen Platz. Mit der Müdigkeit in den Knochen und einem flauen Gefühl im Magen rutsche ich von meinem Sitz ins Freie.

Dunkelheit heißt mich willkommen.

Der Campo liegt leer und verlassen und nur am Rande spenden einzelne gusseiserne Laternen ein diffuses Licht. Die ganze Mitte und die Lücken zwischen den Straßenlampen hüllen sich in Finsternis. Irgendwo rechts von mir plätschert Wasser. Vielleicht ein Springbrunnen. Sonst ist alles still. Zu still.

Silence.

Silence allows violence.

Es schüttelt mich vor Kälte, Müdigkeit und dummer Gedanken.

Zum Glück lenkt der Taxifahrer mich ab. Er deutet auf das größte Gebäude. Es liegt an der Stirnseite des Platzes und wirkt durch die aufwendige Fassade mit den vielen aneinandergereihten Bogenfenstern ähnlich imposant wie die Rathäuser in deutschen Altstädten. Nur eben prächtiger und vor allem gotischer.

Jenna juchzt vor Vergnügen beim Anblick des herrschaftlichen Gebäudes. „Das wird der beste Kurztrip aller Zeiten!", jubelt sie.

Ich starre in die pechschwarzen Bögen und merke, wie die Ecken der Pappkarte mich durch die Tasche meiner dünnen Blousonjacke hindurch piken. Irgendwie bin ich mir da längst nicht so sicher wie Jenna.

Silence allows violence.

Dieser Satz macht mir Angst.


Die Maske des Dogen - das Geheimnis von VenedigWhere stories live. Discover now