Alter Staub

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Mit der Sonnenblume in der Hand schließe ich die Haustür auf. Das vertraute Brummen hörte ich schon draußen, doch es steigert sich in ein penetrantes Dröhnen, während ich die nassen Sneaker auf der Schuhablage in der Diele abstelle. Meine Mutter frönt ihrer Lieblingsbeschäftigung - putzen. Sie poliert mit einem Baumwolltuch ausgiebig den Messinghandlauf des Treppengeländers, das in die obere Etage führt. Der Staubsauger steht derweil im Flur und heult sich einen Ast. Das fast hochfrequente Röhren schmerzt in meinen Ohren, doch für meine Mutter scheint es wie Musik zu sein, denn es ist das Erste, was ich morgens höre und das letzte abends.

Angesichts der Tatsache, das wir in einem Reihenhaus wohnen, grenzt es an ein Wunder, dass noch kein Nachbarschaftsstreit wegen Ruhestörung vom Zaun gebrochen ist.

Ich senke den Kopf. Einzelne Haarsträhnen gleiten wie ein Vorhang vor meine verheulten Wangen, bevor ich mich auf der Treppe an ihr vorbeischiebe. „Hallo, bin wieder da," nuschel ich, nicht laut genug, um den Staubsauger zu übertönen.

Meine Mutter hat vier Stück; einen für jeden Etage, den Keller und den ausgebauten Dachboden mitgezählt; aber alles Billigmodelle, deren stärkste Leistung die Lautstärke ist.

„Denke bitte daran, dass in deinem Zimmer auch mal wieder gesaugt werden muss", ruft sie gegen meinen Rücken, als ich oben vor meiner Zimmertür ankomme. Ja Mama, ich freue mich auch, dich zu sehen. Ja, mein Tag war wundervoll. Danke, der Nachfrage.

„Ja, mache ich!", brülle ich über den Lärm und ergänze in Gedanken: Wenn ich zurück bin. Vielleicht.

Dass mein Zimmer mein Reich ist, ist eine Tatsache, die für meine Mutter lange nicht existierte. Mittlerweile akzeptiert sie es, erinnert mich aber trotzdem ständig an die 'Wichtigkeit von Sauberkeit und Ordnung'.

Mit dem sicheren Gefühl, dass ich dringend hier weg muss, knall ich die Zimmertür zu und zumindest für diesen Moment ist der Staubsauger übertönt.

Unschlüssig stehe ich da.

Die geblümte Tagesdecke liegt ordentlich über dem Bett ausgebreitet, die fünf Kissen hübsch am Kopfende aufgestellt, auf dem Nachtisch stapeln sich Bücher und auf der Staffelei am Fenster steht das Bild, das ich am Wochenende angefangen, aber nicht fertiggestellt hatte. Malschürze, Pinsel und Farben liegen in einer Kiste verstreut daneben.

Meine Mutter würde mit zusammengekniffen Augen und Lippen urteilen: chaotisch.

Ich find's anheimelnd.

Mit einem traurigen Lächeln drehe ich mich zum Kleiderschrank.

Es ist seltsam, zu packen, ohne zu wissen, wo es hingeht.

Am Schrank kleben mit knallbuntem Klebestreifen Fotos von mir und David: tanzend auf dem Dockville Festival, knutschend zu Lous letzter Geburtstagsparty, im Garten beim Kirschenpflücken (ich auf seinen nackten Schultern) und schon ist der Tränenschleier wieder so dicht, dass ich nichts mehr sehe, außer bunter Kleckse auf hellem Holz.

Es ist unmöglich, nicht zu heulen und es ist unmöglich, nichts einzupacken, was mich in irgendeiner Art an ihn erinnert.

David und ich waren seit der Töpfchenphase unzertrennlich und selbst ohne den Schrank zu öffnen, weiß ich, dass es kein Teil gibt, das mich nicht mit ihm verbindet. Noch nicht mal einen Schnürsenkel.

Obwohl, doch: Einen dicken Frotteeschlüpfer, der bis über den Bauchnabel reicht und den ich nur anziehe, wenn mich ne fiese Blasenentzündung erwischt hat. Aber gerade das Teil kommt für einen Urlaub nun wirklich nicht in Frage. Es sei denn, Jenna bucht ein Bett in einer dieser Privatrehakliniken, in die sich ihre Mutter seit dem Verschwinden von Mary regelmäßig zurückzieht.

Jennas Eltern sind häufig woanders und machen 'so ihr Ding', wie Jenna es nennt.

Ihr Vater ist Projektberater und viel unterwegs - seit dem Geschehen um Mary vorzugsweise im Ausland. Jenna leidet darunter. Frau Ellis jedoch scheint die ständige Abwesenheit ihres Gatten weniger auszumachen. Manchmal frage ich mich, ob ihre Eltern sich nicht schon heimlich getrennt und Jenna nur nichts erzählt haben.

Bei dem Gedanken an ihre Situation, ziehen sich meine Eingeweide, wie ein Schraubstock zusammen und gleichzeitig möchte ich meinen Kopf, so fest es geht, gegen meinen Kleiderschrank donnern.

Ihr geht es viel schlechter als mir und dennoch bin ich es, die jammert und nicht klar kommt und das nur, weil mein Freund mich verlassen hat. Geht es noch erbärmlicher?

Meine trüben Gedanken verbrüdern sich mit der Schwerkraft, um mich gemeinsam nach unten zu ziehen. Meine Knie zittern, bereit einzuknicken und ich will nichts lieber, als mich auf den flauschigen Teppich fallen zu lassen und lauter zu heulen als der Staubsauger unten.

Doch ich tue das Gegenteil. Ich wische mir die Tränen aus den Augen und ziehe mit dem Fuß den kleinen rosa Hocker, von dem bereits die Farbe auf der Trittfläche abblättert, vor meinen Schrank. Da ich die 160 nur um einen lausigen Zentimeter überschreite, käme ich sonst nicht hoch.

Ich steige darauf und recke mich nach dem Hartschalenkoffer, der oben auf dem Schrank liegt und eigentlich erst in vierzehn Tagen hätte zum Einsatz kommen sollen.

Sei's drum. Ich zieh ihn vor und ein paar dicke, graue Staubflocken fallen herab.

Meine Mutter würde die Krise kriegen - ich nicht. Mit Schwung schmeiße ich das Teil aufs Bett, ohne mich um die Flusen zu kümmern, die nun auf die geblümte Tagesdecke hinabschweben. Kaum ist die letzte Staubflocke auf die Decke gesunken, klingelt es unten an der Tür.

Das Staubsaugerdröhnen verstummt und in der ungewohnten Stille höre ich die Stimme meiner Mutter: „Jenna, so eine Überraschung! Komm herein. Feli ist oben in ihrem Zimmer. Geht es dir gut?"

Ja. Jenna fragt sie. David hat sie auch immer gefragt.

Jennas herannahendes Lachen verrät mir, dass sie schon auf dem Weg nach oben ist.

„Alles bestens, Frau Robel. Feli und ich wollen ein paar Tage verreisen."

Ohnee, Jenna! Gebannt lausche ich auf die Antwort meiner Mutter, doch stattdessen setzt das Dröhnen des Staubsaugers wieder ein.

„Na Sweetie, fertig gepackt?" Jenna kommt in mein Zimmer gehüpft. Ihre Augen funkeln wie das Meer in der Sonne und strahlen mit ihren in frischem Pink nachgezogenen Lippen um die Wette. Ich merke sofort: Hier kann es jemand kaum erwarten.

„Packen ist schwierig, wenn man nicht weiß, wo es hingeht", maule ich und denke eigentlich: Es ist unmöglich!

„Du brauchst Sommersachen, sexy Sommersachen!" Sie wirft mir einen vielsagenden Blick zu und ich verdrehe die Augen zur Decke, greife aber trotzdem endlich den Knauf der Schranktür, um sie zu öffnen.

Jenna hat leicht reden mit ihren Modelmassen - sie sieht selbst in einem Holzfällerhemd zum Anbeißen aus. Ihre langen Beine kommen in jedem Outfit bestens zur Geltung. Bei mir fallen eher die Rundungen ins Auge. Ich muss extrem aufpassen, denn jedes Bonbon, das ich nasche, bleibt direkt an meinen Hüften oder Oberschenkeln kleben.

Und so freizügige Sachen, wie Jenna sie gern trägt, würde ich schon aus Prinzip nicht anziehen. Musste ich bisher auch gar nicht. Ich hatte ja David und dem war das nicht wichtig.

Aber Lou hatte ein Minikleid an!

Meine Hand zuckt vom Kleiderschrank weg, als hätte sie Angst, von dessen Inhalt gebissen zu werden.

Ist das der Grund? Bin ich ihm nicht sexy genug?

Noch ehe ich begreife, was passiert, knicken meine Beine ein und ich sinke vor dem Schrank auf die Knie.

„Feli! Um Himmels willen, was ist denn?" Jenna ist sofort neben mir und zieht mich in ihre Arme. Ich sehe in ihre großen blauen Augen. „Ich kann das nicht", höre ich mich jammern, deute auf den Schrank und meine eigentlich die ganzen Bilder in meinem Kopf, die jetzt nicht mehr mich und David zeigen, sondern David und Lou.


Die Maske des Dogen - das Geheimnis von VenedigWo Geschichten leben. Entdecke jetzt