Lemontree

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„Was wird das denn?" Mit einem Blick, der der Frage ein zusätzliches Fragezeichen verpasst, beäugt meine Mutter den Koffer, dann Jenna und schließlich mich. „Urlaub!" Die Antwort kommt so aus der Pistole geschossen und freudig geladen, dass ich Jennas 100-Watt-Lachen vor mir sehe, obwohl sie hinter mir steht.

Auch ich zwinge mir ein Lächeln auf die Lippen.

„Ja, ganz spontan. Das Wetter ist so schön", sage ich und komme mir ganz schön blöd vor.

Meine Mutter stützt sich auf das Saugrohr und mustert uns mit ernster Miene. Ihre zusammengezogenen Brauen verraten ihre Gedanken. „Hals über Kopf? Noch heute Abend?" Ihr Ton ist so spitz wie ihre Nase.

Charakterlich haben wir wenig gemeinsam, äußerlich eine ganze Menge: Die karamellblonden Haare, den kleinen Mund und die gerade, schlanke Nase, obwohl meine nicht so spitz ist wie ihre.

Ich versuche, gelassen zu bleiben und ihren Blick zu erwidern, um Nähe herzustellen, wo selten welche ist. Doch ihre Augen sind verkniffen und unter den von Tusche verklebten Wimpern gibt es kein Durchdringen.
Sogar bei Kosmetik kauft sie das Billigste.

„Verreist du nicht bald mit David?" Mist. Meine Unterlippe beginnt verräterisch zu zittern. Schnell versuche ich, sie mit der Oberlippe festzuklemmen, doch unter ihrem Argusblick fängt auch diese zu zucken an.

„Ja! Klar!" Meine Antwort ist zu laut und ich hätte mich am liebsten selbst dafür von der Treppe geschubst. Ich kämpfe darum, meinen Blick stabil zu halten und nicht vor Verlegenheit den frisch gesaugten Teppich nach Krümeln abzusuchen.
Ma guggt verständnislos, tut aber trotzdem das, was sie am besten kann: missbilligend den Kopf schütteln. „Wo wollt ihr überhaupt hin?" Ihrer Frage fehlt jegliches Interesse. Alles, was darin schwingt, ist Missachtung.

„Venedig!" Jennas Vorfreude reicht locker für uns beide. Sie agiert am liebsten aus dem Augenblick heraus. Spontane Abenteuer - und dazu würde ich einen Hals-über-Kopf-Urlaub zählen, sind sowas von Jenna.

Meine Mutter hält von solchen Blitzeinfällen gar nichts. Bei ihr wird alles exakt geplant. Sie geht niemals ohne Zettel einkaufen und weiß schon am Jahresanfang, wann und um welche Uhrzeit im dritten Quartal ein Zahnarzttermin ansteht. „Dein Zimmer ist ordentlich?"

Ist das jetzt wichtig?

„Darum geht es doch gar nicht! Ich bin alt genug!" Meine Lautstärke steigert sich mit jedem Wort, bis sie fast das Level ihrer Staubsaugerkumpel erreicht.
„Das will ich aber meinen." Die Gesichtszüge meiner Mutter sind so verkniffen, dass sie auf den Schlag zehn Jahre älter aussieht. „Du müsstest wissen, dass es nie hilft, vor seinen Problemen davonzulaufen! Statt nach Venedig oder sonst wohin zu fahren, solltest du zu David gehen und dich entschuldigen!"

Sämtliche Muskeln in meinem Gesicht versteinern zu einer starren Maske. Hinter mir zieht Jenna zischend die Luft ein.

Das ist so typisch!

An allem bin ich schuld!

Eigentlich sollte es mich nicht überraschen, dass sie mehr an David glaubt, als an mich. Aber einen Stich versetzt es mir trotzdem.

Als wir Kinder waren, hatte sie ihn oft zum Spielen eingeladen. Da er so ein lieber, braver Junge war. Erst mit Beginn der Pubertät hatte sie angefangen, ihn wie einen räudigen Kater, der Milben oder anderes Viehzeug ins Haus schleppen könnte, zu beäugen. Sein Augenbrauenpiercing und die schulterlangen, gefärbten Haare schockierten sie. Dennoch bekam er immer die größten Portionen, wenn er bei uns mitaß.

Nur mir gegenüber beschwerte sie sich regelmäßig über seinen Lebenswandel, und das Krach machen schließlich kein Hobby sei und dass er nach der Schule keinen richtigen Beruf ausübte, war ihr erst Recht ein Dorn im Auge.

Ich zwinge mich, tief und lang auszuatmen. Sie weiß nichts! Hat keinen Schimmer! Ist aber fest davon überzeugt, dass es mein Verschulden ist. Grandios!

Ich fasse den Griff des Koffers fester und steige die letzten Stufen hinab.

„Es ist nichts vorgefallen, wofür ich mich entschuldigen müsste." Meine Worte sind leise, aber ich spreche sie direkt in ihr Gesicht. „Und um mein Zimmer kümmere ich mich, wenn ich zurück bin."

Ich drehe mich um und gehe zur Haustür.

Jenna stolpert hinter mir her und schnappt schnell ihren Koffer aus der Diele. Er ist sogar noch größer als meiner.

„Für eine Entschuldigung ist es nie zu spät!" Der Ruf meiner Mutter erreicht mich draußen, doch jetzt ist es an mir, den Kopf zu schütteln, denn sie hat nichts verstanden. Gar nichts.

Ich patsche durch Gießpfützen und ziehe den Koffer am Rosenbeet vorbei in Richtung Garage.



Kurz darauf sitzen wir mit Papa im Auto.

Kaum lässt er den Motor an, dudeln die ersten catchy Takte von Fools Garden Lemontree durch die schwere, von kalter Feuchtigkeit durchdrängte Luft im Innenraum. Der Motor surrt und das Scheinwerferlicht erhebt sich und leuchtet die Ausfahrt mit den Betonplatten entlang bis zum Tor.

Meine Füße klopfen im Takt gegen den Boden der Karosserie und als die Stimme des Sängers einsetzt, sehe ich David neben einem Zitronenbaum Schlagzeug spielen.

David ist Musiker mit Herzblut. Mit sieben hatte er beim Spielmannszug angefangen, mit zwölf den Sitz hinter dem Schlagzeug der Schulband eingenommen und seit er fünfzehn ist, spielt er bei Enigmatic Sea die Drums, während seine Kumpels Phil und Eric E- und Bass-Gitarre spielen und Lou singt. Außerdem legt er als DJ Davy Scientist auf und der Name ist vieles, nur kein Zufall: „Musik ist die beste Wissenschaft", ist seine feste Überzeugung, „denn sie findet gegen alles ein Mittel."

Ach, David. Ich schniefe und schnaube in ein Taschentuch, während Jenna zu Lemontree mitsingt.

Mein Vater lenkt das Auto auf die Straße und gibt vor, sich voll und ganz zu konzentrieren. Weiß er eigentlich, wo wir hin wollen?

Er war in der Garage gewesen, als wir aus dem Haus gekommen sind - wie immer. Den Zirkus, wie er es nannte, hatte er allerdings mitbekommen. Als er dann die Koffer sah, die mehr nach Jahresurlaub, als Kurztrip aussahen, hatte er sofort angeboten, uns zu fahren.

Autofahren ist neben Herumwerkeln sein zweitliebstes Hobby. Er ist ein richtiger Häuslebauer und findet, selbst wenn alles in Ordnung ist, immer etwas, das er erneuern oder reparieren kann.

Als Kind glaubte ich noch, dass es immer etwas zu tun gab, später kam ich dahinter, dass er sich diese Dinge bewusst suchte, nur um nicht drin zu sein. Wahrscheinlich geht ihm der ewige Staubsaugerkrach genauso auf die Nerven wie mir.

Erst am Ortsausgang dreht er sich nach hinten:

„Wo soll es denn hingehen?" Sein Ton war der eines freundlichen Taxifahrers, nicht der eines Vaters. Doch genau dafür will ich ihn knutschen.

Ich grinse mit dem zerknüllten Taschentuch in der Hand. „Zum Flughafen." Und er nickt, als hätte er sich das schon gedacht und sieht wieder nach vorn.

Entspannt lasse ich mich in den Sitz fallen und sehe nach draußen, wo plattes Land und ab und an die schwarze Silhouette eines einsamen Baumes, wie ein Gespenst an mir vorbeihuscht.

Am Flughafen hält er direkt hinter der Reihe aus Taxis vorm Terminal und steigt mit aus, um uns die Koffer rauszugeben. Erst als er mir meinen in die Hand drückt, sieht er ernst aus:
„Wenn was ist - ruf an. Ich kann dich abholen. Von überall." Er zwinkert am Schluss, aber ich weiß, dass es sein Ernst ist.

Mein Dad würde mich von überall abholen. Selbst vom anderen Ende der Welt.

Ich umarme ihn.

„Pass auf dich auf."

„Du auf dich auch."

Die Maske des Dogen - das Geheimnis von VenedigWhere stories live. Discover now