Mitternachtsblau

25 3 2
                                    

Lucians Augen sind so dunkel, dass sie fast schwarz wirken. Mitternachtsblau schießt es mir durch den Kopf, als sie hinter den Schlitzen der Maske zwinkern.

Sein Anzug hat die gleiche Farbe und betont seine schlanke Silhouette. Vom Nachthimmel fällt gerade genug Licht auf ihn herab, dass ich erkenne, wie der edle Stoff schimmert und Lucians Eleganz unterstreicht. Das schwarze Hemd, das er darunter trägt, harmoniert mit seinem gebräunten Teint und seinen seidigen, dunkelbraunen Haaren. Trotz der Jagd glänzen seine Schuhe wie poliert. Ich frage mich, wann er die Zeit hatte, sich umzuziehen, doch eines ist offensichtlich: Er ist der Prinz der Dunkelheit, der Aschenbrödel zu sich holt.

Noch während ich ihn auf verstörte Art bewunder, legt sich ein Schleier über meine Welt. Es ist, als würde das Grau des alten Filzmantels auf mich abfärben und meine Sinne trüben. Nur dieser eine Gedanke bleibt klar: Er ist der Prinz der Nacht und er holt mich zu sich. Wie ich das begreife, verebbt der Schmerz in meinem Kopf, rollt aus wie kraftvolle Wellen am Strand. Die Finsternis greift mit samtigen Handschuhen nach mir und es ist seltsam tröstlich, erlöst zu sein, von all dem Leid der letzten Stunden. Oder vielmehr Tagen, denn auch mein Herz ist plötzlich frei; es scheint, als hätte David seinen Platz darin verloren. Meine Knie knicken ein und ich falle gegen Lucian, der mich auffängt, als hätte er damit gerechnet.

„La caccia è finita", flüstert er mir zu und ergänzt beinah zärtlich: „Il mio vero amore."

Ich sehe zu ihm hoch. Seine Augen blitzen zu intensiv, seine Lippen sind zu zart und die Zähne, die sie entblößen, wenn er lächelt, sind zu spitz. Ganz offensichtlich unterscheidet er sich von den Menschen. Er ist intensiver, wilder und strahlender, als ein Mensch sein kann. Und verlogener.

Er sülzt von wahrer Liebe, dabei wird er mich töten.

Ich wünschte, ich könnte ihn wegschieben, doch es fehlt die Kraft, der Wille oder beides. Die Wut steckt zu tief in meinem Bauch, als dass sie einen Weg herausfindet.

Sein Geruch nach Limone und Rosmarin weht um meine Nase und lässt mein Herz so unregelmäßig klopfen, dass ich fürchte, es zerspringt. Schlaff hänge ich in seinen Armen, kaum mehr vom eigenen Gewicht gestützt. Mein Blick gleitet an den Kanten seiner Maske entlang, seine definierten Wangenknochen herab, bis hinunter zu seinem Kinn, in dessen Mitte der Hauch eines Schattens liegt. Meine Wangen fiebern, als wöllten sie mich daran erinnern, dass das hier alles nicht richtig ist. Und doch liege ich hier, von ihm gestützt und sehne mich fast danach, dass er mein Bewusstsein zu sich holt und ich nichts mehr spüre außer dieser samtenen Dunkelheit.

Doch diesen Gefallen tut er mir nicht. Noch nicht.

„Andiamocene di qui."

„Wohin?", flüstere ich so leise, dass ich kaum glauben kann, dass er es hört.

„Al palazzo del Silenzio", erklärt er belustigt und ich sehe seine Mundwinkel zucken.

„Wo ist Jenna?" Ich bin stolz auf mich, denn ich finde zumindest die Kraft, meinen Kopf zu heben, um ihm aufmerksam in die Augen zu sehen.

„Nel Palazzo." Er zuckt bei der Antwort mit den Achseln und mir wird klar: Entweder sagt er die Wahrheit – oder er lügt.



Der Rückweg ist erdrückend lang und gleichzeitig viel zu kurz. An seinem Arm geleitet mich Lucian an Kanälen vorbei, deren Oberflächen glänzen wie glattpolierte, schwarze Spiegel. Ich sehe mich selbst in dem spiegelnden Schwarz und fühle mich wie eine Verurteilte auf dem Weg zum Schafott. Was hat er mit mir vor? Wird es mir gelingen, mich zu befreien? Und selbst wenn Jenna im Palazzo ist und ich sie finde, könnte ich ihr wirklich beistehen, oder sie mir?

Meine Angst wächst mit jedem Schritt, genauso wie die Fragen in meinem Kopf. Der Griff von Lucians Hand um meinen Arm ist fest genug, um zu verhindern, dass ich flüchte oder zusammenklappe, was er wohl beides für gleichermaßen wahrscheinlich hält, und gleichzeitig sanft genug, dass es nicht weh tut.

Als er die verlorenen Blicke bemerkt, die ich auf den Canale Grande richte, erklärt er wie bei einem Stadtrundgang: „Die regata storica erinnert an die große Geschichte Venedigs."

„Die Geschichte der Dogen," korrigiere ich tonlos und Lucian nickt eifrig. „Die erste historische Aufzeichnung der Regatta stammt aus dem 13. Jahrhundert, aber eigentlich gibt es sie noch viel länger." Er klingt dabei so stolz, dass mir übel wird.

„Dann findet die Jagd also seit mehr als acht Jahrhunderten statt?" Die Vorstellung, dass bereits so lange Frauen durch die Stadt getrieben und ermordet werden, ist so entsetzlich, dass es mich wundert, dass das Wasser in den Kanälen Venedigs sich nicht rot gefärbt hat.

„Sì, naturalmente. Aber dieses Jahr wird die Regatta eine ganz Besondere sein." Dabei sieht er mich so glücklich an, dass ich den Blick abwende.
„Felicitas, weißt du, was die Venezianer bei der regata storica wirklich feiern?"

Ich nicke langsam, denn es ist zu ungeheuerlich, um es auszusprechen.

Sein Blick zieht über den silbrig glänzenden Canale Grande hinweg, als er selbst die Antwort gibt: „Dass sie und ihre Töchter bei der Jagd heil davongekommen sind. Das ist auch der Grund, weshalb vor der Jagd  so viele Hotels und Restaurants schließen. Die meisten Menchen verlassen die Stadt und kommen erst zur Regatta zurück."

Kann ich gut verstehen.

„Doch das ist nun vorbei, denn diese Regatta ist die Letzte." Der Glanz der Wasseroberfläche reflektiert sich in seinen Augen.

„Es macht dich wirklich glücklich", stelle ich fest, und weiß, dass es keine Lüge ist. 

„Sì, molto." Das silbrige Strahlen in seinen Augen erinnert an einen Sternenhimmel und lässt mein Herz aussetzen.

Ich ringe um Luft, als ich frage: „Dann ist der Pakt also erfüllt?"

Seine Augen hinter der Maske werden schmal. „Wer hat dir vom Pakt der Stille erzählt?" Das samtige Tuch, das seine Stimme ummantelt wie eine Messerklinge, ist leicht verrutscht.

„Niemand", lüge ich zu schnell. Meine Handflächen schwitzen, als ich an die Nonna mit dem weißen Zopf und dem Bergamotte-Orangentee denke. Lucian sieht mich aus scharfen Schlitzen so durchdringend an, dass ich merke, wie sich meine Nasenspitze rot verfärbt. Noch offensichtlicher kann eine Lüge nicht sein, doch zu meiner Erleichterung zuckt er schließlich die Schultern.

„Non importa." Er wendet sich ab und tritt an die Mauer zum Kanal. Doch seine Lippen sind schmaler, als vorher.


Der Palazzo del silenzio leuchtet uns schon von weitem wie ein einzelner Stern am Nachthimmel entgegen. Doch seinem Funkeln fehlt die Hoffnung.

Mit jedem Schritt werden meine Füße schwerer und Julian zieht mich mehr, als dass ich laufe. Schließlich hat er es satt und hebt mich in einer einzigen fließenden Bewegung in seine Arme. Seine Hand und sein Unterarm liegen um meine Hüfte wie ein seidener Gurt und meine Beine baumeln über die Ellenbogenbeuge des anderen Armes herab.

„Hey lass ...!", protestiere ich schrill, doch er bringt mich mit einem scharfen „Sta' zitto!", zum Schweigen. Obwohl er mich trägt, geht sein Atem gleichmäßig und ruhig, seine Lippen formen ein Lächeln und es scheint, als fehle nicht viel und er beginne ein Lied zu trällern. Mit ausladenden, leicht federnden Schritten betritt er den Palast.

Ich kneife meine Lider zusammen, da das Licht mich blendet und fühle, wie Lucian mich zurück auf die Füße stellt. Als ich meine Augen öffne, ist es vor mir: Das Fest im Hause des Levi.


Die Maske des Dogen - das Geheimnis von Venedigजहाँ कहानियाँ रहती हैं। अभी खोजें