Kaninchen im Schnee

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Nichts ist irrsinniger, als vor einer Wahl zu stehen, die gar keine ist. Fünf übergroße Doppeltüren öffnen vor uns ihre Flügel - doch sie alle führen zum selben unvermeidlichen Ende. In den riesigen Ballsaal, dessen heller Glanz mich schon von draußen blendet.

Jenna und ich wählen Tür Nummer zwei und übertreten Hand in Hand mit gestrafften Schultern, erhobenen Köpfen und zusammengekniffenen Augen die Schwelle.

Ich blinzel gefühlt hundertmal, um mich an die Helligkeit zu gewöhnen, doch was ich dann sehe, raubt mir den Verstand: Der ganze Saal scheint nur aus Glas und Licht zu bestehen.

Da sind Tische aus bläulich schimmerndem Glas; durchsichtige Säulen, die aussehen wie Bäume und mit ihrem Astwerk erhaben zur Decke aufstreben, um sich dort zu verzweigen; Vasen wie Eisberge, in denen eingeschlossene Rosenbouquets leuchten wie frisch im Eis erblüht.

Jenna und ich bestaunen die künstliche Winterwelt, die aus italienischem Marmor, barockem Stuck und feinstem Murano Glas Objekte gestaltet wie in einer Filmkulisse. Hier wäre Hollywood besser aufgehoben, als in diesem Maskenladen.

Vor Ehrfurcht bleibt mir der Atem weg. Als er endlich wieder einsetzt, erwarte ich fast, kleine Wölkchen vor mir zu sehen, doch ich sehe gar nichts, außer das Glitzern des Glases und Marmors um mich herum.

Die Kronleuchter sind noch gewaltiger als die im Flur und doppelt so reich mit Glasschmuck behangen. Ihre zarten Tropfen glänzen wie tausend zu Eis erstarrter Tränen.

Ihr weißes Licht füllt jeden Winkel, bevor es vom glattgebohnerten Fußboden unendlich reflektiert wird. Das gleißende Weiß, in dem wir stehen, gleicht einer unberührten Schneedecke im Winter. Lediglich die Rosenbouquets erzeugen satte Farbtupfer; reines Blut im frisch gefallenen Schnee.

„Wahnsinn!" Jenna bekommt vor Staunen den Mund nicht mehr zu. Und ich kann es verstehen.

Die Kälte des Raumes lässt mich frösteln und doch liegt die Schönheit im Detail.
Der weiße Marmor wird von dünnen sandfarbenen und schwarzen Linien wie Adern durchzogen. Und wie die ersten Schneeglöckchen im Januar blitzen überall florale Elemente hervor, die mein Herz schneller schlagen lassen und mich dazu treiben, die feinen goldenen Blätter, die an den Baumsäulen und Wänden emporklettern, zu berühren. Selbst die Stuckverzierung unterhalb der Decke ist bedeckt mit vergoldeten Ranken und Blüten.

Uns gegenüber nimmt eine Bühne die gesamte Breite des Saals ein. Dass sie ebenfalls aus Glas gefertigt ist, überrascht mich nicht einmal mehr. Ihre dunkelblauen Samtvorhänge reichen von der Decke bis zum Bühnenboden und sind bis auf einen Spalt in der Mitte geschlossen. Und dort lauert sie. Die Dunkelheit, die alles Licht zu verschlucken droht.

Feli! Stop! Es ist nur ein Schatten!

Ich leite meinen Blick rasch weiter zu den Fenstern. An den Längsseiten des Saals verstecken sich in kleinen Erkern bodentiefe Rundfenster, die aber ebenfalls mit dicken Vorhängen aus dunkelblauem Samt verhangen sind.

Und da ist es wieder. Dieses schaurige Gefühl beobachtet zu werden. Meine Finger sind eiskalt, als ich gewahr werde, dass Jenna und ich sämtliche Blicke auf uns bündeln. Bisher hatte ich nur auf den Raum geachtet. Ein Fehler, wie sich jetzt herausstellt.

Nur wenige der Männer besitzen genug Anstand wegzusehen, als mein Blick sie streift. Die meisten starren unverhohlen und ich wette, hinter ihren Masken verbergen sich anzügliche Grimassen.

Mir wird heiß und schlecht zugleich. Meine eigene Maske spüre ich kaum, so leicht schmiegt sie sich an meine Wangen. Hätte ich doch nur in dem Maskenladen so eine hässliche Schnabelmaske mit Kutte gekauft. Dann würde ich in dieser bizarren Masse verschwinden, ohne dass jemand Notiz von mir nimmt.

Ein fader Geschmack steigt in meiner Speiseröhre nach oben und im nächsten Wimpernschlag bin ich sechzehn und stehe in der Aula unserer Schule. In einem schwarzen Kleid, nur wenig länger als dieses. Ich erinnere mich; der Abend war schön, denn ich war mit David da. Doch die Fotos, die danach in der Klasse die Runde machten, waren das Gegenteil; im grellen Blitzlicht leuchtete meine Haut leichenblass und die Dellen, die sich oberhalb des Knies bis unter den Kleidsaum wölbten, drängten sich auf jedem Bild ungefragt in den Vordergrund, erst Recht auf den Schnappschüssen. Ich hätte dieses Kleid nie anziehen dürfen!

Und ich hätte nie herkommen dürfen!

„Jenna lass uns gehen!" Ich zerre mein Kleid nach unten und drehe mich um.

„Was ist denn los?", Jennas Blick schwebt noch immer wie auf Wolke sieben an den Stuckverzierungen unter der Decke entlang. „Entspann dich mal, immerhin sind wir zum Feiern hier und das wird die beste Party unseres Lebens!"

Ihr Gesicht scheint sogar unter der Maske zu strahlen, es ist offensichtlich, dass sie sich im Paradies wägt. Als ihr Blick meinen sucht, bleibt er am Buffet hängen.

Oh nein!

Doch schon steuert meine Freundin zielsicher darauf zu. „Bevor wir gehen, sollten wir wenigstens noch das Essen probieren", flötet sie in einem Tonfall, der mir sagt, dass es sich nur um Stunden handeln kann, bis sie damit fertig ist. Denkt sie allen Ernstes, Häppchen würden was ändern?

Obwohl der Saal gut gefüllt ist, hat Jenna zu meinem Bedauern keine Schwierigkeiten ihr Ziel zu erreichen. Alle machen Platz.

Ich folge ihr widerwillig und achtete darauf, dass unser Abstand nicht zu groß wird. Wie ein von Wölfen umzingeltes Kaninchen hoppel ich ihr ängstlich hinterher. Es ist als würden Scheinwerfer jedem meiner Schritte folgen, und ich wette alle sehen, dass mir die kleinen Härchen am ganzen Körper zu Berge stehen. Und die Dellen sehen sicher auch alle.

„Jenna, lass uns gehen!" Ich bettel fast, als sie am Buffet stoppt.

„Wieso? Der Spaß fängt doch gerade erst an!" Schon drückt sie mir ein Glas Champagner in die Hand.

Meine Hände schwitzen so sehr, dass das Glas fast wieder rausrutscht. Ist das ihr Ernst? Dass wir hier völligst fehl am Platz sind, ist offensichtlich! Ja, wir dürften ja nicht mal hier sein! Die Einladung war nicht für uns bestimmt und das weiß sie genauso gut wie ich.

Jenna liest in meinem Gesicht und ich sehe, wie sich ihre Augen hinter der Maske verdunkeln. „Jetzt reiß dich mal zusammen!" Verständnislos schüttelt sie den Kopf und fast meine ich, nicht sie, sondern meine Mutter steht hier in weißem Kleid mit Katzenmaske vor mir. „Wir sind wegen dir hier! Nirgends wirst du eine bessere Gelegenheit bekommen, dich von der Trennung abzulenken und selbst wenn du es dir anders überlegt hast - es ist auch mein Urlaub. Also lass uns jetzt einfach Spaß haben! Cheers!"

Sie prostet mir zu. Ihre blauen Augen funkeln schon wieder und stehen in krassem Kontrast zu dem unversöhnlichen Tonfall, den sie eben noch an den Tag gelegt hatte und der so gar nicht zu ihr passt. So wie sie jetzt guggt, ist es schwer, ihr etwas abzuschlagen.

„Aber ... ." Es ist nicht nur ein Unwohlfühlen, weil wir rotzfrech eine fremde Party gestürmt haben. Nein, ich wittere konkrete Gefahr. Wäre ich tatsächlich ein Kaninchen, würden meine Schnurrhaare vor Anspannung vibrieren und meine Löffel wild zucken.

Nur, wie soll ich das Jenna klarmachen?

"Buona sera." Die Stimme, die hinter mir erklingt, ist melodisch und dennoch samtig weich. Wie eine streichelnde Hand, ausgestreckt um das zitternde Karnickel zu beruhigen.

Die Maske des Dogen - das Geheimnis von VenedigWo Geschichten leben. Entdecke jetzt