Allein mit dem Löwen

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Der Dogenpalast verfügt über mehr als zwanzig Ratssäle und schon nach dem zweiten zieht es in meinem Nacken, denn die gewaltigen Kassettendecken mit den darin eingelassenen Gemälden ziehen alle Blicke automatisch nach oben.

Im Sala del Anticollegio, in dem die Gäste früher auf den Empfang beim Dogen warteten (wie uns die Duttdame erklärt), betrachten wir das Gemälde ‚Raub der Europa' - eines der berühmten Werke Paolo Veroneses. Die gewaltsame Entführung der Prinzessin Europa durch den Gott Zeus, in Gestalt eines weißen Stiers, ist hier direkt vor unserer Nase als festliches Ereignis mit üppigen Gewändern, sanften Farben und idyllischer Natur dargestellt. Als ob.

Jenna unterdrückt ein Gähnen und hält sich den Handrücken vor den Mund. Ich schmunzel, denn bisher hat sie statt der Gemälde eher das Sicherheitspersonal beäugt.
In diesem Raum ist es eine Frau jenseits der Vierzig.

Ich zwinkere meiner Freundin wissend zu. Jenna interessiert sich für Kunst, wie ich mich für Fußball: Alle vier Jahre ist es mal kurz Pflichtprogramm und das war's dann. Deshalb bin ich ihr dankbar, dass sie ohne Murren mitgekommen ist. Da sie neben mir steht, greife ich ihre Hand und gemeinsam folgen wir der Führung weiter in den Saal des großen Rates.

Was als Ziehen begonnen hat, verfestigt sich hier zu einer Nackenstarre.

Der gewaltige Saal ist über fünfzig Meter lang und in seiner ganzen Ausdehnung mit Gemälden, Fresken, Stuckarbeiten und Vergoldungen ausstaffiert wie ein Thronsaal. Besonders oberhalb der Kopfhöhe ballt sich die Opulenz. Es ist, als wollten die Erbauer den normalsterblichen Besuchern deutlich machen, wie klein, unbedeutend und unwürdig sie eigentlich sind. Vielen Dank, das weiß ich auch so.

Umzingelt von einem Gestühl aus Nussbaumholz an den Wänden und der Tribüne mit dem Sitz des Dogen an der Längsseite, wächst der Eindruck, von diesem künstlichen Himmel mit all seinen Herrscher- und Götterdarstellungen, erdrückt zu werden von Minute zu Minute.
Es braucht nur zwei Wörter, um diesen Raum zu beschreiben: überwältigend und einschüchternd. Und zwar direkt in dieser Kombination: überwältigend einschüchternd.

Doch trotz der Überfrachtung kennt mein Blick nur eine Richtung: Am Übergang von den Wänden zur Decke hängen die Dogenporträts.

Und da sind sie: Augen so blau wie das Meer in der Lagune von Venedig. Und wie als wäre dieser Gedanke wie eine Kopflaus unter den Dutt der Museumsführerin gesprungen, stöckelt diese zur Fensterfront und öffnet eines der Fenster, das zum Meer hinausgeht. Die hereinstreichende Brise weht eine meiner Haarsträhnen sacht zurück und mir ist, als tippe sie mir dabei freundlich auf die Schulter, um mich zum Tanz im Klang der spielenden Wellen aufzufordern.

Auch wenn es in meinen Kniekehlen zuckt, bleibe ich stehen wie festgewachsen. Mein Blick ist noch immer gefangen in den Augen des Mannes, der mir von unterhalb der Decke aus goldenem Rahmen spöttisch zulächelt.

Und er lächelt nicht nur, er stiert direkt in meine Seele. Ich habe keinen Schimmer, wer da eigentlich abgebildet ist. Doch sein Blick ist kontrollierend, fordernd, bestimmend. Er ist jemand, der befiehlt. Und er befiehlt mir da zu bleiben. An Ort und Stelle.

Es ist verrückt. Er hat den gleichen Blick wie der geflügelte Löwe. Und er wird sich jeden Moment auf mich stürzen.

Hilflos wackel ich mit den Fingerspitzen. Doch Jenna ist fort. Ihr Tennisdress ein weißer Punkt am anderen Ende des Saals. Auf Zehenspitzen studiert sie die Gemälde im Nahkreis des Wachschutzes in allen Details und setzt dabei ihre verboten langen Beine in dem kurzen Tennisrock so in Pose, dass sie auf Insta Herzchen in Hülle und Fülle kassieren würde. Das Herz des Securitymannes hat sie längst erobert. Das sehe ich von hier. Er verfolgt ihre Bewegungen wie ein fesselndes Tennismatch und ohne sich im geringsten um den ihm anvertrauten Schutz dieser herausragenden Kulturgüter zu kümmern. Jenna hat es faustdick hinter den Ohren.

Doch der Typ passt zu ihr. Er ist schick wie Mister Espresso, und dabei mehr sexy als düster und seine Haltung bleibt trotz Jennas wimbledonreifer Darbietung lässig und cool. Mister Americano, lege ich fest und freue mich für Jenna. Wenigstens langweilt sie sich nicht mehr.

Obwohl bei mir von Langeweile auch nicht die Rede sein kann. Mein Herz schlägt mir bis zum Hals, während der Blick von schräg oben wie ein Hagel aus Eiskristallen auf meiner Haut sticht.

Feli, jetzt reiß dich zusammen! Das Fenster ist auf! Natürlich ist es kalt!

„Wie heißt der Doge mit den kobaltblauen Augen?", frage ich die Museumsführerin, ohne den Blick von den sanften Brauen, der geraden Nase und der leicht geschwungenen Oberlippe über meinem Kopf zu nehmen. Meine Stimme ist etwas zu laut, doch da außer unserer Gruppe niemand hier ist, kümmert es mich nicht.

Die Frau mit Dutt kratzt sich an der Nase und zwinkert irritiert, bevor sie erklärt: „Von den insgesamt 123 Dogen, die über die Republik Venedig regierten, sind 76 hier im Saal porträtiert ..." Ihre Stimme wird immer leiser und mir dämmert, dass sie keine Ahnung hat, welches Bild ich meine.

Dabei ist das doch offensichtlich! Die anderen zeigen durch die Bank weg alle alte Säcke. Entschuldigung - Herren; in bodenlangen Kutten, mit gebogenen Nasen und Vollbärten. Und keiner davon hat blaue Augen, die bis zum gebohnerten Boden des Saals leuchten und sich darin widerspiegeln. Bis auf den einen.

Verwechslung? Ausgeschlossen!

Ich öffne den Mund, um sie erneut zu fragen, doch sie sieht auf ihre Uhr, als hätte sie es plötzlich eilig.

„Prego, seguitemi! Lassen sie uns weitergehen!", sagt sie auch prompt, schließt das Fenster und stiefelt in den nächsten Saal. Die Gruppe folgt ihr auf dem Fuß.

Na toll. Irgendwie habe ich das Gefühl, dass ich ohnehin die Einzige bin, die sich für die Gemälde interessiert.

Doch nun starre ich auf  die geschlossenen Türen mit dem dunkelbraunen Holz und bin mutterseelenallein in diesem leeren Saal mit der gewaltigen Fülle.  Sogar Jenna und ihr Wachmann sind verschwunden.

Die Maske des Dogen - das Geheimnis von VenedigWhere stories live. Discover now