Zwei Sterne

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Ich fliege mit Jenna im Schlepptau. Über die letzten Treppenstufen rutschen wir nach unten und können uns gerade noch rechtzeitig fangen, um nicht auf dem Po zu landen.

Zu unserem Glück ist der Eingang unbesetzt, einzig die Nacht lauert davor. Ihr Empfang ist kühl und feucht, doch ein sicheres Verbergen versagt sie uns – unsere Kleider leuchten hell wie zwei Sterne und unsere Absätze knallen laut wie Peitschenhiebe, als wir aus dem Palazzo del silenzio flüchten, als wäre der Teufel hinter uns her.

Ist er ja auch. Lucian.

Ohne Zaudern rennen wir ins Schwarz. Die Helligkeit des Palazzo hat sich derart in meine Netzhaut gebrannt, dass noch immer bunte Punkte vor meinen Augen tanzen. Sie verfolgen mich und gleichzeitig sticht ein Schmerz zwischen meinen Ohren, der mich mit jedem Schritt quält, als wolle er mich auffordern, umzukehren.

Einen Teufel werde ich tun!

Die Nacht um uns herum ist so dicht, dass ich um ein Haar die kleine Brücke, die sich über den pechschwarzen Kanal spannt, verpasst hätte. „Hier lang!" Ich ziehe Jenna am Arm, aber ohne Kraft, denn die stecke ich komplett in die Beine.

„Was ... was war das eben?" Jenna japst und ich merke, wie sie langsamer wird.

Nein, nicht schlappmachen! Um Puste zu sparen, verzichte ich auf eine Antwort, zumal ich es selbst nicht weiß.

„Buona caccia! Trovate la mia Stella! Trovate il mio amore!" Eine bekannte Stimme zerschneidet die Nacht wie eine in Seide gehüllte Messerklinge. Eine tosende Masse antwortet mit Jubel. Die Woge des Aufruhrs schwappt wie ein Tsunami durch die Gassen hinter uns und bringt uns dazu, noch mehr Gas zu geben.

Tränen schießen mir in die Augen und ein aufwallender Brechreiz verätzt mir die Kehle, direkt daneben brennt meine Luftröhre vom Rennen wie Feuer.

„Links!" Ich war so abgelenkt, von der Frage, wie lange ich das durchhalten werde, dass ich für ein paar Sekunden nicht auf den Weg geachtet hatte. Im letzten Moment werfe ich mich rum, um nicht im Kanal zu landen. Danke, Jenna.

„Wie finden wir hier raus?" Trotz Atemnot frage ich mich, wie wir je aus dem Gewirr der zahllosen Gassen und Kanäle rausfinden sollen, wenn ich schon bei Tag Angst hatte, für immer in dem Altstadtlabyrinth gefangen zu sein.
Jetzt mitten in der Nacht ist es noch schlimmer. Die engen, dunklen Häuserschluchten erzeugen das Gefühl, durch ein riesiges schwarzes Loch zu rennen, so dicht und massig, dass es kein Entrinnen gibt. Nicht mal Licht könnte hier entkommen. Gleichzeitig spüre ich eine unheimlich starke Kraft, die mich zum Palazzo del silencio zurückzuziehen scheint. Diesmal ist es Jenna, die sich den Atem spart und mir einer Antwort schuldig bleibt.

Ihr hohes Japsen vermischt sich mit meinem Keuchen und wir rennen weiter, bis ein ohrenbetäubender Knall gefolgt von einem dumpfen Schlag für Stille sorgt. Wie erstarrt verharren wir und sogar unser Atem bleibt an Ort und Stelle stecken: bei mir auf halbem Weg zwischen Lunge und Kehlkopf.

Das Geräusch ist mir durch die Muskeln bis in die Knochen gefahren. Ich befürchte, dass sie brechen, wenn ich weiter renne. Jenna kauert am Boden und presst die Hände auf die Ohren. „Ich kann das nicht! Mach, dass es aufhört!", schreit sie. Ich zerre sie zurück auf die Füße und greife ihre Hände. „Jenna, du musst!" Ich bringe den strengen Blick und Tonfall, den ich jahrelang bei meiner Mutter studiert habe, zum Einsatz und es wirkt: Ich sehe, wie Jennas Katzenaugen in der Dunkelheit nicken.

Hand in Hand rennen wir weiter am Kanal entlang, das silberne Band schenkt Orientierung doch mit jedem Meter wächst die Angst, dass unsere Verfolger um eine Ecke biegen und uns entdecken.

Jenna scheint es ähnlich zu gehen.
„Hier lang!" Sie schiebt mich in die nächstbeste Gasse und da sie sehr eng ist, lässt sie dabei meine Hand los. Ich jage weiter, so schnell ich kann durch die Häuserschlucht. Meine Absätze und mein Atem hallen rechts und links von den Wänden wieder, dass ich nichts anderes höre, außer die Stimme in meinem Kopf, die mich betört umzukehren.

Halt die Fresse!

Bei der nächsten Gelegenheit biege ich rechts ab und danach wieder links. Durch den Schmerz in meinem Kopf ist es schwer, mir die Richtung zu merken, aus der ich gekommen bin, trotzdem muss ich unbedingt vermeiden, im Kreis zu rennen.

Wenn ich die Arme nur ein bisschen zur Seite strecke, berühren meine Finger die nasskalten Wände. Kein Licht fällt zu mir herab. Ich bin umgeben von absoluter Dunkelheit und ... Stille.

Scheiße! Abgesehen von meinem eigenen Herzschlag und meinem keuchenden Atem dringt nichts an meine Ohren. Ich wirbel um meine Achse. Wo ist Jenna?

Mein Mund öffnet sich, um zu rufen, doch sogleich beiße ich mir auf die Lippen. Was wenn die Verfolger mich hören?

Eine Wolke aus Angst umgibt mich und stiehlt mir den Sauerstoff. Ich drücke mich an die Wand und atme in gepressten Stößen. Der Schmerz in meinem Kopf ist unerträglich und mit einem seltsamen Wehklagen vermischt, als würde er sich selbst bedauern.

Und ich bin kurz davor mit einzustimmen, an der kühlen Wand hinabzurutschen und hier zu verharren bis Jenna mich findet, oder Lucian.

Hauptsache nicht allein sein.

David, wo bist du? Der Schmerz in meinem Kopf lässt den Gedanken an ihn kaum durch, es ist als wehre er sich mit Händen und Füßen dagegen.

Und das sollte ich auch tun! Ich werde nicht aufgeben!

Hektisch ruckt mein Kopf nach rechts und links, das Brummen unter meiner Schädeldecke hat mich komplett vergessen lassen, von wo ich gekommen bin.

Aus den Augenwinkeln erhasche ich eine Bewegung. Ist da ein Schatten? Ein schwarzer Strich da ganz hinten? Ich drücke mich gegen die Ziegelwand und taste mich an ihr entlang, so schnell es in den Stilettos möglich ist, ohne Geräusche zu erzeugen. Meine Augen haften an der Stelle, wo sie den Schatten vermuten.

Meine Finger umschließen eine Kante, Metall, ein Fensterbrett. Ich ducke mich und drehe mich um. Meine Hand wandert hinauf, berührt Glas, das kalt ist wie Eis, doch es gibt nach, als ich dagegen drücke. Das Fenster ist offen! Ich richte mich auf und drücke es mit dem Zeigefinger vorsichtig auf. Drinnen ist es genauso dunkel wie hier draußen, ganz hinten schimmert ein Orange; vielleicht der Schein eines Kaminfeuers aus einem anderen Zimmer.

Ich spitze die Ohren, doch höre nur das Blut, das in meinen Gehörgängen rauscht wie ein tosendes Meer.

Ein letzter Blick zurück. Die Schatten kommen von allen Seiten auf mich zu und bevor sie mich erreichen, stütze ich mich am Fensterbrett nach oben und kletter in das Zimmer.

Der Raum ist leer.

In mir rauscht ein Strudel aus Angst, Verzweiflung und Schmerz doch um mich her liegt eine quälende Stille, die alles überlagert. Silencio.

Ich habe Jenna verloren.


Die Maske des Dogen - das Geheimnis von VenedigWhere stories live. Discover now