Kapitel 18.2 - Ich hasse dich nicht ✅

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In Wills Armen brach ich in Tränen aus. Ich hatte gedacht, er würde mich hassen. Ich hatte gedacht, er würde nie wieder mit mir reden wollen. In mir brach ein Damm. All die Anspannung fiel von mir ab.

»Nicht weinen.«, flüsterte Will und hielt mich ganz fest. Ich sah ihn an, während die Tränen meine Sicht verschwimmen ließen. Er lächelte warm. Jetzt war ich nicht vom Pech verfolgt. Zumindest jetzt nicht. Also gab es doch noch Hoffnung.

»Geh jetzt schlafen.«, sagte er. »Morgen sehen wir uns wieder.«

»Es ist bereits morgen.«, sagte ich. Will grinste leicht. »Ich weiß.«

Noch einmal blickte ich zu ihm, dann lächelte ich. Er lächelte zurück. Und bei diesem Lächeln ging mir das Herz auf. Erleichterung spülte über mich hinweg, ließ mich ein erfreutes Hochgefühl verspüren. Es war nicht alles verloren.

»Schlaf gut.«, sagte er.

»Du auch.«, flüsterte ich und machte mich glücklich und leise auf den Weg zurück in mein Zimmer. Dort schlief ich dann auch schnell ein. Es war wunderbar zu wissen, dass Will mich nicht hasste, obwohl er nun wusste, dass ich getötet hatte. Ein schwerer Stein war von mir abgefallen. Allerdings waren da noch ein paar andere schwere Steine übrig, die mich zu erdrücken drohten. Morgen würde es vielleicht die ganze Schule wissen. Bei dem Gedanken verflog meine gute Stimmung und ihr folgte Übelkeit. Außerdem beschäftigte mich nun noch etwas anderes. Würde ich jemals meine leiblichen Eltern kennenlernen? Und wenn ja, wie würden sie auf mich reagieren? Vor allem, wenn sie es auch wussten?


Der nächste Morgen kam deutlich schneller, als mir lieb war. Der Wecker riss mich schrill aus dem Schlaf und ich stöhnte. Ich hatte geschlafen wie eine Tote. Aber ich hatte es wirklich gebraucht. In aller Ruhe stand ich gähnend auf. In Schlafklamotten reckte ich mich, ehe ich mit einem Blick auf die Uhr entsetzt feststellte, dass es bereits halb eins war. Ich hatte verschlafen! Und wie ich verschlafen hatte!

Schnell hastete ich durch mein Zimmer, zog mich in Rekordzeit um und rannte aus dem Turm. Auf dem Weg zum Speisesaal traf ich auf mehrere Schüler, die langsam und gemächlich zum Mittagessen liefen. So ein Gedrängel! Und ich hatte noch nicht mal gefrühstückt! Mein Magen meldete sich mit einem lauten Gebrummel. Doch ich schenkte ihm wenig Beachtung. Wie hatte ich nur so verschlafen können?

Leise fluchte ich. Plötzlich flimmerten alle anwesenden Schüler und wurden an die Wand geschoben. Sie alle rissen entsetzt die Augen auf und als sie mich erblickten, erstarrten sie. Wurden weiß wie die Wand. Ich konnte die Worte nicht verstehen, die sie flüsterten.

Ich rannte nun durch den freigewordenen Gang und platzte mitten ins Mittagessen. Schlagartig lagen die Blicke aller Anwesenden auf mir. Die Zeit schien stillzustehen. Alle hatten in ihrem Tun innegehalten und ihre Blicke verharrten bewegungslos auf mir. Man hätte eine Stecknadel fallen lassen hören.

»Mörderin.« Dieses Wort. Schlagartig wurde mir eisig kalt. Ihre Lippen bewegten sich. Ich konnte sie nur entsetzt anstarren. Mir war es nicht möglich, mich zu bewegen. Zu einer Salzsäule erstarrt stand ich im Türrahmen.

Erneut. »Mörderin.« Immer und immer wieder. Es kam aus allen Ecken. Erfüllte den ganzen Raum. Unkontrolliert begann mein Körper zu zittern. Egal, in welches Gesicht ich blickte. Überall blickten mir ängstliche Blicke entgegen. Und hasserfüllte. Wie Gift drangen sie in mein Innerstes, raubten mir alle Kraft.

»Monster.« Obwohl die Stimme nur ganz leise war, stach sie doch aus allen hervor. Und das Schlimmste war, dass mir diese Stimme schmerzlich vertraut vorkam. Claire. Erneut lief mir ein eisiger Schauer über den Rücken. Bitte nicht. Wieso? Wieso tat sie mir das an? Verräterisch sammelten sich die Tränen in meinen Augen, raubten mir die Sicht. Verhöhnten mich. Bewiesen meine Schwäche.

ObscuraWhere stories live. Discover now