Kapitel 49.2 - Richtig und Falsch

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"Töte mit mir, Mika.", sagte Ariadne. Ich sah sie an. Nichts an mir verriet meine Gedanke oder meine Gefühle.
"Weshalb sollte ich, Ariadne?", stellte ich ihr die entscheidende Frage. "Wieso sollte ich für dich die wenigen Jäger töten, die erfahren haben, dass du Geschwister hast? Du kannst das selber." Ich verschränkte meine Arme vor meiner Brust und sah die Jägerin vor mir herausfordernd an. "Weshalb sollte ich? Außerdem, was bringt mir das, wenn nur eine Handvoll Jäger sterben? Was habe ich davon?"
Ariadne löste ihre Finger aus meinen Schultern und trat einen Schritt von mir zurück, um mich zu mustern. "Was du davon hast? Meinst du, es wird reichen, die Jäger zu töten, die mitbekommen haben, dass ich Geschwister habe? Vorerst vielleicht. Aber was ist mit denen, die misstrauisch werden, wenn ich nicht zu ihnen zurückkehre? Jeder von ihnen kennt mich. Und sie werden mich suchen. Denkst du, es wird ihnen gefallen, wenn sie sehen, dass eine ihrer besten Jägerinnen sie ohne ein Wort im Stich gelassen hat?" Sie lachte trocken. Natürlich glaubte ich das nicht. Die Jäger würden wütend werden und Ariadne zwingen, weiter zu machen und dafür ihre Geschwister gegen sie einsetzen. Ich ahnte, auf was sie hinaus wollte. "Ich muss sie alle vernichten, Mika. Nur so kann ich in Ruhe weiter leben, wenn ich nicht mein ganzes Leben lang auf der Flucht sein will. Und dafür müssen sie alle sterben." Ihr Blick glitt in eine unbekannte Ferne. "Was du davon hast? Ich sag es dir. Es liegt in dem Interesse von uns beiden, dass die Jäger verschwinden. Für immer. Und wenn wir es geschafft haben, werde ich dir versprechen, dich in Ruhe zu lassen. Dich, deine Familie und alle anderen Ghost Elementary. Ich werde keine Jägerin mehr sein." Ihr Blick schwenkte zu mir und blieb auf mir liegen. "Ich weiß, du willst das. Und ich weiß, dass du die Kraft dazu hast, das Nötige zu tun."

Ich wusste nicht was ich tun sollte. Einerseits klang das fantastisch, was Ariadne sagte, was danach sein würde. Ich würde leben können. In Frieden. Ich bräuchte nie wieder Angst zu haben. Ich müsste mich nicht mehr verstecken. Und ebenso alle anderen nicht mehr. Doch zu welchem Preis? Wie viele Jäger mochte es wohl geben? Wie viele Leben müsste ich auslöschen, um das zu bekommen, was ich wollte? Und würde ich überhaupt noch in Frieden leben können, wenn ich wissen würde, dass ich es gewesen war? Dass ich dann für den Tod all dieser Elementary verantwortlich wäre? Wie sollte ich dann noch nachts in Ruhe schlafen können? Würde mein Gewissen das überleben?

Ich wandte meinen Kopf ab und wusste einfach nicht, was ich machen sollte. Alle Probleme wären gelöst, wenn ich Ariadnes Angebot annahm. Doch dafür müsste ich töten. Viel töten. Das würde ich nicht überstehen. Nicht unbeschadet. Und damit meinte ich meine Seele. Es würde mich zerreißen. Ich wusste, was ich gespürt hatte, als ich die Jäger und Claire tötete. Diese Schuldgefühle, der Selbsthass, das Gefühl, als würde ich von innen zerreißen. Wie würde es nur in mir aussehen, wenn ich mehrere dutzend oder gar mehrere hundert Elementary auf meinem Gewissen hätte? Ich konnte es mir nicht vorstellen. Und ich wollte es mir auch nicht vorstellen müssen.

"Und?", fragte mich Ariadne. "Was sagst du?" Sie hielt mir ihre ausgestreckte Hand entgegen. Ich spürte mein Herz nicht, aber eigentlich müsste es in diesem Moment wie wild schlagen, als würde es mir aus der Brust springen wollen. Ich war hin und her gerissen. Würde ich einschlagen, würde ich alle Ghost Elementary von den Jägern befreien und sie wären in einer sichereren Welt als zuvor. Doch ich würde vermutlich in meinen Gefühlen ertrinken und ersticken. Aber wäre es dann nicht für ein größeres Wohl? Für das Wohl aller? Immerhin hatte ich die Kraft dazu, die Ghost Elementary von ihrer Angst zu befreien. Ich hatte die Kraft dazu, das zu tun, was getan werden musste, damit all die anderen in Frieden leben konnten. Was zählte dabei schon mein Leben und mein Gewissen? Ich durfte auch nicht daran denken, wie die Leute mich dann sehen würden. Wie sie von mir denken würden. Würden sie mich wie eine Heldin feiern, oder würden sie mich wie eine Mörderin hassen? An meine Familie durfte ich bei dieser Sache gar nicht denken. Weder wusste ich, was meine leibliche Familie, noch was Hanne denken würde.
Aber das war bei dieser Sache egal. Es zählte allein was ich für richtig hielt? Doch was war das Richtige? War es das Richtige, die Jäger zu töten, oder Ariadne zu sagen, dass ich ihr nicht helfen würde? Aber würde ich ihr nicht helfen, würde ich mich bis in alle Ewigkeiten fragen, ob es das Richtige war, was ich getan hatte? Und wie konnte es das Richtige sein, wenn ich mich immer fragen würde, "was wäre, wenn ...?"?


Noch hatte Ariadne ihre Hand nicht weggezogen. Sie wartete. Sie war geduldig. Sie schien zu wissen, was in mir vorging, dass ich überlegte. Dass ich darüber nachdachte, was das Richtige war. Sie lächelte mich aufmunternd an. Sie hatte nichts Drängendes an sich. Sie würde mich auch nicht töten, würde ich nein sagen. Sie würde mir keinen Vorwurf machen. Ich war erstaunt von ihrer Geduld und der Fähigkeit, die Hand solange ausgestreckt zu halten und das sie trotzdem noch immer nicht zitterte. Irgendwie schien sie meinen inneren Konflikt zu verstehen.
"Weißt du, ich war auch einmal so wie du, Mika.", sagte Ariadne. "Ich hatte Angst etwas zu tun, weil ich an die Folgen dachte, die mein Handeln mit sich bringen würde. Und ich kenne die Folgen. Doch irgendwann habe ich aufgehört an sie zu denken und mich auf das konzentriert, was ich für richtig hielt. Die Folgen sind mir nicht egal, auch wenn es so scheint. Der Unterschied zwischen dir und mir ist, dass ich aber im Gegensatz zu dir mit ihnen leben kann."

Ich schluckte. Sie hatte recht. Natürlich hatte sie das. Irgendwie hatte sie das immer. Sie wusste genau wovon sie sprach. Immer. Und in diesem Moment wünschte ich mir, ein kleines bisschen mehr wie Ariadne zu sein.

"Du bist stark, Mika. Aber erst wenn du deine Angst überwindest und das tust, was du für richtig hältst, bist du wirklich stark. Und egal was andere sagen, wenn du denkst, es ist richtig, dann ist es das auch. Vielleicht nicht für andere. Aber für dich." Noch einmal zuckte ein Lächeln über Ariadnes Lippen. Es überraschte mich, als ich bemerkte, dass es ein sanftes Lächeln war.

Was hielt ich für richtig? Ich wusste nur, dass ich zitterte, als ich bei Ariadne einschlug.

ObscuraWhere stories live. Discover now